Dienstag, 11. November 2014

Zitate aus Osterhammel: Die Verwandlung der Welt

Rezensionen dieses "Meilenstein[s] der deutschsprachigen Geschichtsschreibung" (Andreas Eckert) liegen bereits einige vor (z.B. bei Perlentaucher). Ein Gesamturteil kann ich mir noch nicht erlauben, doch möchte ich für die Lektüre dieses Werks Anreize schaffen, indem ich hier zunächst einzelne Zitate zusammenstelle, die anregen, sich auf die Lektüre der umliegenden Passagen einzulassen. 
Ziel ist, von dort über das Einfügen von mehr und mehr Kommentar (jeweils in Schrägdruck) zu einer eigenen Gesamtbeurteilung zu kommen.

Einleitung
"Alle Geschichte neigt dazu, Weltgeschichte zu sein." (S.13)
"Weltgeschichte bleibt eine Minderheitsperspektive, aber eine, die sich nicht länger als als abseitig und unseriös beiseite schieben lässt." (S.14)

Osterhammel setzt mit seinem Beispiel für weltgeschichtliche Betrachtung (wie vor ihm Bayly in "Die Geburt der modernen Welt", 2006) zu einem Zeitpunkt an, wo die Globalisierung schon so weit voran geschritten ist, dass die Menschheitsgeschichte schon starke und mehr und mehr weltweite Wirkungszusammenhänge erkennen lässt.

Zeit
" 'Mein' 19. Jahrhundert wird nicht als zeitliches Kontinuum [...] gedacht. Die Geschichten, die mich interessieren, sind nicht lineare [...], sondern Übergänge und Transformationen. Jede dieser Transformationen weist eine eigene temporale Struktur auf, [...]" (S.86)
"Vor dem 20. Jahrhundert kann kein einziges Jahr als epochal für die gesamte Menschheit betrachtet werden." (S.96)

Osterhammel sieht das 19. Jahrhundert immer in Bezug auf seine charakteristischen Unterschiede zu den früheren Jahrhunderten und auf die Wandlungen, die die Strukturen des 20. Jahrhunderts herbeiführten. Dafür kann der Satz "Vor dem 20. Jahrhundert kann kein einziges Jahr als epochal für die gesamte Menschheit betrachtet werden" als beispielhaft gelten. Das 19. Jh. wird in die Kontinuität der vorhergehenden Jahrhunderte  gestellt und andererseits deutlich von dem Globalisierungsgrad des 20. abgehoben. Das gilt auch für seine Aussagen über den Raum. Sorgfältig achtet er darauf, dass uns geläufige Termini nicht ungeprüft als schon im 19. Jahrhundert gültig verwendet werden.

Raum
"Die Sammelbezeichnung 'Südostasien' entstand während des Ersten Weltkriegs in Japan." (S.137)

"Die Kategorie des 'Westens' etwa [...] findet sich als dominante Denkfigur nicht vor den 1890er Jahren." (S.143)
"Im langen 19. Jahrhundert war viel häufiger als vom 'Westen' von der 'zivilisierten Welt' die Rede. [...] In Japan wurde es sogar zum Ziel nationaler Politik, als zivilisiertes Land akzeptiert zu werden." (S.144)

"Die Zeitgenossen [des späten 19. Jh.] sahen das nationalstaatlich verfasste Europa stets in einem weiteren imperialen Rahmen." (S.146)

"Die Habsburgermonarchie hatte im 19. Jahrhundert keine expansiven Absichten mehr [...]. Sie blieb aber eine Art von "Frontstaat" gegenüber dem Osmanischen Reich." (S.148)

"Manches spricht dafür, dass erst die umfassende Verbreitung von Empire-Karten mit ihrer berühmten, seit 1830 gebräuchlichen Rotfärbung des Reiches in de britischen Öffentlichkeit ein Empire-Bewusstsein erzeugte." (S.150)

"1871 brachen 49 hohe japanische Würdenträger und Beamte, darunter mehr als die Hälfte der obersten Staatsspitze, zu einer Erkundungsreise in die USA und nach Europa auf, die anderthalb Jahre dauern sollte." (S.153)

"Der Pazifik hatte schon 1571 mit der Gründung des spanischen Manila, das Mitte des 17. Jahrhunderts mit 50 000 Einwohnern etwa so groß wie Wien war, eine beträchtliche Bedeutung für den Welthandel gewonnen [...]" (S.160)

Panoramen
Unter der Überschrift Panoramen gibt Osterhammel ohne Vollständigkeitsanspruch einen Überblick über acht große Wirklichkeitsbereiche, die wesentliche Elemente der Gesamtgeschichte des 19. Jahrhunderts erfassen sollen.

Sesshafte und Mobile
Demographische Katastrophen und demographischer Übergang

"Währenddessen herrschte in Europa Frieden. Zwischen 1815 und dem Beginn des Krimkrieges 1853 wurde überhaupt kein Krieg geführt [...]. Insgesamt gab es im achtzehnten Jahrhundert siebenmal mehr Kriegstote in Relation zur Gesamtbevölkerung Europas als im neunzehnten." (S.194)


Das Erbe frühneuzeitlicher Fernmigrationen: Kreolen und Sklaven

"Insgesamt war anfangs nur die spanische Auswanderung ein voller Erfolg [...] Für die anderen [...] wurde Nordamerika erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem attraktiven Ziel. Dies setzte voraus, dass man fast überall Wege fand, die unangenehmste Arbeit von Nichteuropäern verrichten zu lassen." (S.201)


"Es war eine Besonderheit der USA unter den anderen Sklavengesellschaften, dass hier die Sklavenbevölkerung bereits vor dem Ende des internationalen Sklavenhandels hohe Wachstumsraten durch eigene Vermehrung erzielte." (S.203)
[Das heißt also: Überall sonst starben die importierten Sklaven so schnell weg, dass die Kolonien auf eine ständige Nachlieferung von Sklaven wirtschaftlich angewiesen waren; vgl. atlantischer Dreieckshandel.]

Strafkolonie
"Im Januar 1898 wies die amtliche Statistik 298 600 Deportierte in Sibirien aus." (S.207)
In China "wurden Zehntausende von Menschen in Gebiete der heutigen Provinz Xinjiang exiliert." (S.207)
"Insgesamt sahen sich is zum letzten Gefangenentransport im Jahre 1868 162 000 Menschen als Sträflinge nach Australien verbracht." (S.209)

Exil
"Die rechtsgeschichtlich wichtigste Zäsur war die Julirevolution von 1830, die zur festen Verankerung des politischen Asyls [...] in den Rechtsordnungen der westeuropäischen Staaten, vor allem Frankreichs, Belgiens und der Schweiz, führte." (S.211)
"Niemals zuvor war so viel Politik aus dem Exil heraus gemacht worden wie im 19. Jahrhundert." (S.211)
"Später im Jahrhundert wurden auch die asiatischen Reiche vom Exil aus unterminiert. Das war bis dahin selten geschehen." (S.212)

"[...] wurden später im 19. Jahrhundert London, Paris, Zürich, Genf und Brüssel die wichtigsten Operationsbasen für die Exilpolitik. Im Rückblick von der Gegenwart aus erstaunt die Freiheit, die viele Exilpolitiker trotz zunehmender Überwachungsanstrengungen der Behörden (etwa in Frankreich) genossen." (S.213)

Massenfluchten und ethnische Säuberungen

"So war der griechische Unabhängigkeitskampf weniger eine Heldenaktion [...] als ein Vorbote späterer etnischer Säuberungen in der Region." (S.215)
"Mindestens 100 000 Krimtataren [...] siedelten sich [...] in Anatolien an" (S.215)
"Mindestens 450 000, vielleicht sogar bis zu einer Million Angehörige muslimischer Bergvölker wurden zwischen / 1859 und 1864 aus ihrer Heimat vertrieben." (S.215/6)
"Der Balkan war im ganzen 19. Jahrhundert eine der ethnopolitisch unruhigsten Gegenden der Welt." (S.217)

Interne Wanderungen und die Transformation des Sklavenhandels

"Auch wenn das 19. Jahrhundert noch nicht das 'Jahrhundert des Flüchtlings' war, so war es doch eine Epoche der internationalen Arbeitsmigration. Diese Migration war umfangreicher als alles, was die Geschichte bis dahin kannte." (S.221)

Transnationale Migrationstopographien: Europa und Ostasien
"Für Europa [...] trat als wichtigster Magnet für Wanderungswillige die industrielle Erschließung von Bergbauregionen." (S.222)
"Die mit Abstand größte Migrationsbewegung von Han-Chinesen" war die Wanderung von "etwa 25 Millionen [...] in den Nordosten [die Mandschurei] ; zwei Drittel kehrten zurück, 8 Millionen siedelten sich dauerhaft an." (S.224)
"Die geschätzte Zahl der Sibirienimmigranten beläuft sich für 1851 bis 1914 auf 6 Millionen." (S.226)

Nomadismus und Wanderarbeit
"Grundsätzlich wichtig ist es, zwischen der Migration von Arbeitern und agrarischen Siedlern  einerseits und  der Mobilität von Hirten andererseits zu unterscheiden." (S.226)
"Nichts irgendwo sonst auf der Welt ähnelte den Viehherden von 150 000 bis 400 000, in seltenen Fällen bis zu 600 000 Tieren, die zwischen den sechziger und achtziger Jahren immer wieder drei Monate lang von Texas nordwärts getrieben wurden, begleitet von bis zu zweitausend berittenen Cowboys." (S.227)

Sklavenexporte aus Afrika
"Mit der langsamen Kontraktion des Sklavenhandels [...] verminderte sich die Intensität der Einbeziehung Afrikas in interkontinentale Wanderungsströme." (S.229/30)

Über den Sklavenhandel im Osten Afrikas: "Gefangenenkarawanen marschierten manchmal tausend Kilometer, bis sie das Rote Meer erreichten." (S.231)

Migration und Kapitalismus

"Keine andere Epoche der Geschichte war wie das 19. Jahrhundert ein Zeitalter massenhafter Fernmigration." (S.235)

Wanderziel Amerika
"Um 1820 war das jährliche Volumen der Sklaventransporte nach Brasilien noch mehr als doppelt so hoch wie das der freien Einwanderung in die USA!" (S.237)
"Die Immigration in die USA wuchs von etwa 14 000 Personen jährlich in den 1820er Jahren [...] bis auf etwa eine Million auf dem Höhepunkt 1911." (S.237)

Kontraktarbeit
Kontraktarbeit wurde für Plantagen, Bergwerke und den Eisenbahnbau gebraucht. 
"Kurz nachdem kontraktueller Arbeitszwang aus der Organisation der Einwanderung in die USA verschwunden war, erfuhr er seine Auferstehung im asiatischen Kontraktarbeitersystem." (S.241)
"Wo immer die angebotenen Löhne in Übersee so niedrig waren, dass nur die Ärmsten der Armen sich dafür interessierten, war eine Vor- oder Fremdfinanzierung der Überfahrt unumgänglich." (S.242) Sie geschah über Indentur

Das zweite Panorama steht unter der Überschrift:

Lebensstandards: Risiken und Sicherheiten materieller Existenz

Wie man sieht, sind die Panoramen durchaus nicht so klar gegliedert und ähnlich gleichwertig wie die Annäherungen. Vielmehr gibt es große Überschneidungen zwischen Lebensstandards  und Mobilität; denn während der Sklavenexport die Betroffenen in Lebensstandard und Lebensqualität meist auf Generationen zurückwarf, wurde die freiwillige Migration meist von Personen der Unterschicht gewählt, die hoffen durften, mittelfristig ihren Lebensstandard zu verbessern, auch wenn sie im Falle der Indentur zwischenzeitlich zu Arbeit ohne (oder zu nur sehr geringem) Lohn verpflichtet waren. 

(J. Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2009)

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