Montag, 6. Mai 2024

Ein Gespräch im Internet

Fontanefan: @Silicium58 Mein Versuch, dir zu erklären, dass ich mich angesichts der bestehenden Unklarheiten sehr vorsichtig ausgedrückt habe, ist gescheitert. 

Silicium58: @Fontanefan Das mag dann an mir liegen.

Aber nicht, dass du jetzt daran scheiterst, die Quelle zu liefern, nach der ich höflich gefragt hatte. Für dieses Scheitern wäre nicht ich verantwortlich.

Fontanefan: Nein, sondern nur mein Gedächtnis. Ich besinne mich, dass ich von einer amerikanischen Untersuchung gelesen habe, wonach die Hamas mehrheitlich Zustimmung der Bevölkerung habe, aber kurz darauf von einer anderen (war es eine israelische??), die etwas anderes behauptete. Daraufhin habe ich diese Kontroverse der traurigen Weisheit zugeordnet, dass im Krieg die Wahrheit zuerst stirbt, und beide Aussagen als fragwürdig angesehen.

Wer will auch bei einer Bevölkerung mit einer terroristischen Regierung eine tragfähige Untersuchung anstellen, wie sie zur Regierung steht? Hätten die USA das in Nazi-Deutschland herausfinden können? - Andererseits: nach den Blitzkriegerfolgen der Wehrmacht hat mancher seine Meinung über Hitlers Krieg geändert und nach Stalingrad wieder in die andere Richtung. Wie dachten Russen über Stalin während der großen Säuberung und wie nach den Erfolgen gegen die deutschen Angreifer? Meinungen wechseln. Und historisch gesichert ist nur, dass die Politik Hitlers zu vielen Millionen Toten geführt hat und die Politik Stalins auch. - Was man im Nachhinein über die Bluttaten der Hamas und die Gegenreaktion Israels sagen wird, wird lange weniger von der Zahl der Opfer abhängen, sondern von der Einstellung, die die gegenwärtig im Krieg befindlichen Gegner nach dem Krieg zueinander haben werden.

Noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es Deutsche, die es sich wünschen, die Nazis hätten den Krieg gewonnen.

Auch in Nazideutschland gab es viele Gegner Hitlers. Es waren nur bei weitem zu wenige. Mein Vater hat im Zweiten Weltkrieg an der Flak gestanden, um seine Kinder davor zu retten, dass sie all das verlieren müssten, was ihnen die Erziehung ihrer Eltern mitgegeben hatte. Konnte er wissen, dass seine Frau nach dem Krieg hoch engagiert an einem amerikanischen Projekt der Elternerziehung mitarbeiten würde? Glaubt man im Ernst, dass er als engagierter Christ in Kenntnis dessen, was das NS-Regime war, nicht voll an ihrer Seite gestanden hätte? - Danke für deine verständnisvolle Reaktion!

Nach deinen ersten Kommentaren hätte ich nicht gedacht, dass es noch Sinn hätte, meine Position genauer zu erläutern. Wir mögen weiterhin unterschiedlicher Meinung sein, aber mit Sicherheit bist du kein Roboter, der mich nur provozieren wollte. Danke.

gutefrage.net


Mehr zum Nahostkonflikt:

https://www.merkur-zeitschrift.de/artikel/anatomie-der-gewalt-a-mr-78-5-5/

daraus:

"[...] Der Historiker Hillel Cohen hat überzeugend argumentiert, dass die Ausschreitungen im Sommer 1929 in zahlreichen Städten Palästinas – damals kraft eines Völkerbundmandats nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg unter britischer Herrschaft – als das »Jahr null« des Konflikts zu betrachten sind. Was in manchen historischen Darstellungen als eine palästinensische Rebellion gegen die Briten beschrieben wird, war in Wahrheit vielmehr ein Ausbruch von Gewalt an Zivilisten, dem ganze Gemeinden zum Opfer fielen. Was als ein Streit zwischen Juden und Muslimen um Gebetsordnungen an der Klagemauer beziehungsweise dem Ḥā'iṭ al-Burāq in Jerusalem begann, entwickelte sich innerhalb weniger Tage zu Ausschreitungen, die Zivilisten zuerst in Jerusalem und kurz darauf in etlichen anderen Städten betrafen. Insgesamt 133 Menschen der jüdischen Bevölkerung und 166 Menschen der muslimisch-christlich arabischen Bevölkerung kamen dabei ums Leben. Die Gewalt richtete sich nicht ausschließlich gegen neue zionistische Siedlungen, sondern vielfach gegen alteingesessene, nicht- oder sogar antizionistische jüdische Gemeinden in Städten wie Hebron im Süden oder Safed im Norden. Die Gemeinde von Hebron wurde dabei ausgelöscht (die israelischen Siedler im heutigen Hebron – einer der radikalsten Hochburgen der Siedlerbewegung – stammen nicht aus der alteingesessenen Gemeinde). [...] Auf die Hintergründe der Gewalt hinzuweisen, ist keine Relativierung der Schuld der Täter oder des Leids der Betroffenen, sondern der Suche nach einer anderen Zukunft geschuldet. [...] Im zionistischen beziehungsweise israelischen Fall ist die gegenwärtige Entkontextualisierung des Siedlerbegriffs besonders auffallend, handelt es sich hier doch um die Anderen Europas schlechthin, um eine Gruppe, die schon lange vor dem Holocaust Pogromen ausgesetzt war – und um Gemeinden, die mit dem Aufkommen des Nationalismus in der arabischen Welt in den 1940er und 1950er Jahren auch dort kaum noch Aussicht auf ein Bleiben hatten. Auch in anderen Fällen das gleiche Bild: verarmte Landarbeiter aus Frankreich, Spanien und Italien im Fall Algeriens, deutsche Kleinbauern in den preußischen Ostgebieten, Buren in Südafrika, Kriminalisierte und Ausgegrenzte in Australien, religiös Abtrünnige und Verfolgte aus England in Nordamerika. In all diesen Fällen stammte zumindest ein beachtlicher Teil der Siedler aus den ausgegrenzten Schichten der kolonisierenden Gesellschaften.

Die historisch unprivilegierte Ausgangsposition von Siedlergesellschaften entbindet sie selbstverständlich nicht von der politischen Verantwortung, sich mit der für solche Kontexte eigentümlichen Anatomie der Gewalt zu befassen oder sich der Missachtung von Gesetzen und Institutionen zu stellen, die mit dem prägenden Pioniermythos einhergehen.18 Zugleich darf man aber die Ambivalenz von Siedlergesellschaften nicht aus den Augen verlieren. Siedler können nicht für die Verbrechen europäischer Gesellschaften verantwortlich gemacht oder dämonisiert werden. Genau in diesem Sinne haben mehrere Historikerinnen und Historiker seit den frühen 1990er Jahren geforscht und argumentiert. Caroline Elkins und Susan Pedersen haben in einem programmatischen Text beispielsweise die Fragilität vieler Siedlergesellschaften analysiert und ihre Abhängigkeit sowohl von den Kolonialmächten als auch von lokalen Bevölkerungen betont.19

Doch anstatt diese Ambivalenzen wahrzunehmen, wird momentan ein Begriff des Siedlerkolonialismus forciert, der diese Form der europäischen Expansion als die Krönung der Gewalt und das repressivste aller Systeme darstellt und letztendlich die entfesselte Gewalt rechtfertigt, die die Hamas am 7. Oktober 2023 unter anderem an Hochbetagten, Frauen und Kindern verübte und an den Geiseln weiterhin verübt. Wie menschenverachtend dieser Siedlerbegriff ist, zeigte ein Instagram-Post der erfolgreichen Künstlerin Emily Jacir kurz nach dem 7. Oktober: Zu sehen war ein Foto der fünfundachtzigjährigen Yaffa Adar, während sie von Hamas-Militanten gekidnappt wird. Das Foto überschrieb die Künstlerin mit dem Kommentar: »Diese gefangene Siedlerin sieht zufrieden aus. Ich hoffe, sie bekochen sie mit einem guten palästinensischen Gericht.« [...]

Wenn mit der Forderung »Ceasefire Now« nicht nur ein Ende der Gewalt, sondern auch ein erster Schritt in Richtung politische Transformation gemeint sein soll, wenn mit der Parole »From the River to the Sea, Palestine Shall Be Free« kein algerisches Szenario, sondern eine auf Gleichheit und Gerechtigkeit basierende Lösung gemeint sein soll, dann führt an einer politischen Auseinandersetzung zwischen Erzfeinden, zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten kein Weg vorbei. Konstruktiv würde sie nur durch das Erkennen und Erkunden von Ambivalenzen. Die heute noch so radikal klingenden Parolen könnten morgen oder übermorgen schon leer wirken."

Avner Ofrath: Anatomie der Gewalt Merkur Heft 900 Mai 2024

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