Zwischenstand bei S.88:
Da ich zwischen der Arbeit zur Ablenkung lese, ist es vorteilhaft, dass ich nicht in das Buch hineingezogen werde.
Mein Eindruck ist, dass Bossong vorführen will, dass Angestellte der UN weder sich noch die Aufgaben, die sie bearbeiten, ernst nehmen, weil sie dann eine zu große Überforderung spürten:
"Und die Kosmopoliten? Das waren die wenigen, die sehr wenigen unter uns, die wussten dass eine Heimat nicht festgehalten werden konnte, so wie man eine kurze Verliebtheit nicht festhalten kann oder einen Gegenstand, der Bedeutung hat, denn entweder verschwindet der Gegenstand oder die Bedeutung, oder man selbst erinnert sich nicht mehr daran, und es gibt nur eine beschlagene Scheibe, durch die hindurch wir auf etwas Zurückliegendes blicken, und manche haben Glück und sehen etwas Wunderschönes, aber sie sehen es nur, sie erleben es nicht mehr." (Schutzzone, S. 38)
Prototypen: Darius, der vielgereiste Diplomat, und sein Sohn Milan. Doch auch die Ich-Erzählerin scheint sich nicht ernst zu nehmen.
Vielleicht spielt bei meiner Reaktion eine Rolle, dass ich zuvor Solschenizyn gelesen habe, wo Personen zwar ähnlich chancenlos agieren, aber die, auf die die Aufmerksamkeit des Erzählers sich richtet, alle das Interesse des Lesers auf sich ziehen.
Mit Solschenizyns Spätwerk "konnte der Westen wenig anfangen". (Spiegel vom 4.8.2008)
Zu Nora Bossong zitiert die Süddeutsche Zeitung zitiert am 14. Juli 2020 das Urteil einer Jury "Ihr Werk sei zwar in jeder Zeile politisch, aber moralisiere nicht. Die in Bremen geborene und in Berlin lebende Bossong widme sich den Irrungen und Wirrungen eines eurozentrischen Jahrhunderts, die Protagonisten ihrer Romane seien unterschiedliche Frauen und Männer - vom Diplomaten in 'Webers Protokoll' aus dem Jahr 2009 über einen Textilfabrikanten und seine Tochter in 'Gesellschaft mit beschränkter Haftung' (2012) bis hin zu einer UN-Mitarbeiterin in 'Schutzzone' von 2019."
Bei Bonn. März und April 1994, S.89:
Während bisher nur das neben-der-Welt-Stehen vorgeführt wurde, werden jetzt Gründe genannt: der Verlust der vertrauten Umgebung dadurch, dass die Eltern sie zu dem Diplomaten in Pflege gegeben haben, damit die Tochter nicht mehr ihren ständigen Streit mitbekommen solle; darüber hinaus, ihr verloren gegangenes Interesse - besonders der Mutter - an der Tochter Mira; die Kritik der Mutter Lucia an der Umgebung, in die sie ihre Tochter gesteckt hat, nicht zuletzt am Vater Darius, der sich zu viel vornehme, sein Versuch, ein Reh aufzuziehen, werde scheitern.
Darius seinerseits überfordert seinen Sohn Milan, indem er ihn zu schwere Klavierstücke sinnlos üben lässt. Seine Erwartung, sein Sohn solle besser werden als die anderen, damit er sich nicht anpasse, sondern seinen eigenen Weg gehe wie der Vater. Die Angst Milans, der Vater werde von einer UN-Mission nicht mehr zurückkehren. Und das Lob des Vaters für Mira: "Aus Mira wird auch noch was, und sein Nicken in meine Richtung war milder, aber von mir erwartete er auch nichts." (S.95)
Mira schreibt die Verantwortung für all das sich selbst zu: Sie habe "in der Lüge gelebt", weil sie das Bild eines Harlekin, das über ihrem Bett hing, für ein Kinderporträt von ihr selbst hielt, wo es doch ein berühmter Picasso war.
New York. April 2011, S.96
Das totale Fremdheitsgefühl: Französisch lernen in den USA; das New York, das nicht zu den Bildern passen will, die sie davon aus dem Fernsehen kannte, Ratten im Müllschlucker, die sie piepsen hört und von denen sie befürchtet, sie könnten schon unter ihrem Bett sein. Ihre nächtliche Aushilfsarbeit in einer Bar, insofern den Neuankömmlingen aus Mexiko oder Nairobi gleich. - Das UN-Gebäude in New York als Repräsentant einer Macht, zu der sie nicht gehört. Unwirkliches Gefühl, die bekannten Bilder aus dem Fernsehen jetzt in der Wirklichkeit zu sehen. "Dass ich nun tatsächlich vor diesen Feuerleitern stand, machte sie nicht wirklicher, es machte lediglich mich unwirklich." (S.98)
Der Typ aus der Bar, der in der UN in Wien über chemische Waffen gearbeitet hatte und ihr halbe Hoffnungen macht: "Ich will ehrlich sein, wir brauchen niemanden. Aber ich dachte gerade ... Wer weiß. Kommen Sie nächste Woche mal vorbei." (S.101)
Es passte zu dem Anspruch, unter dem Bossong schreibt, wenn sie bei dem Harlekin, der über Miras Bett hängt (und den sie sich als Teil ihrer Vergangenheit denkt - S.89 u.96), an das Bild der fünf Kinder im Harlekinskostüm aus der Pringsheimfamilie dächte, die in Thomas Manns Jugendzimmer hing, über dessen Modelle er nichts wusste. Er hat sie als erfolgreicher Autor der Buddenbrooks, als der er Familiengeschichte in große Fiktion verwandelte, dann persönlich kennenlernen können, hat Katia Pringsheim in einer Märchenhochzeit wie in "Königliche Hoheit" zu seiner Frau machen können und in diesem "strengen Glück" seinerseits dank seiner Frau die berühmteste Literatenfamilie Deutschlands im 20. Jahrhundert begründen können. Realität. Zwar alle unter dem fürchterlichen Druck des väterlichen Übervaters "Zauberer", aber dank der selbstbewussten Aufopferung Katias trotz aller Schwierigkeiten durch Zeitumstände und Veranlagung keine Versagen, auch wenn sie sich überfordert haben. Nicht August Goethe, sondern Klaus Mann, der schon 1933 in der Auseinandersetzung mit Benn beispielhaft die Emigration als die richtige Entscheidung propagieren konnte.
Lebenslüge von Mira gegen gelebtes Märchen in der Mann-Familie? - Ich denke, der Bezug funktioniert nicht, obwohl er sich angesichts des Motivs des Harlekins mir aufdrängt.
Auf Seite 106 schlägt die Erzählerin zu, weil sie gefragt wurde, ob sie ihren Vertrag verlängern wollte. Oder war es doch die Autorin, die gemerkt hat, dass die UNO nicht einen ganzen Roman lang als Leerstelle stehen lassen kann? [Meines Erachtens waren schon von den 88 mindestens 50 zu viel.] Zitat:
"Es gab die neunziger Jahre, Ruanda und Srebrenica, Hutu-Power und Slobodan Milosevic.
Es gab die Mogadischu-Linie, 18 tote US-Soldaten und das Versprechen Bill Clintons, sich nicht mehr in Konflikte einzumischen, in denen die USA nichts zu gewinnen hatten.
Es gab die zehn belgischen Blauhelm-Soldaten, die wenige Monate später in Kigali ermordet wurden zu Beginn des Genozids. Sie hatten die ruandische Premierministerin schützen sollen. Es war ihnen nicht geglückt. Sie wurden das belgische Mogadischu.
Es gab Tote in Ruanda, einige sagten 600.000, andere sprachen von 1 Million.
Es gab das Kind, dessen Körper Feuer fing, das bereits leblos schien und doch wieder zuckte und schrie, und die Augen waren so schwarz, weil von innen alles schon verbrannt war, nur nicht die Nerven. An den Nerven entlang fraß sich die Höller weiter.
Aber es gab keine Hölle, weil es keine gefallenen Engel gab. Nur Menschen.
Es gab die Grenze zu Zaire, zu der sich viele Hutu flüchteten, als die FRP die Macht übernahm." (S.106) So geht das noch zwei Seiten weiter.Und dann heißt es:
"Es gab Milan. Irgendwo dazwischen gab es Milan." (S.108)
Und dann springt die Autorin wieder in die Leerstelle zurück, aus der geistreiche Formulierungen ("wie grenzenlos kann man wachsen, wenn man nur noch aus Stein besteht." - S.111) nicht hinausführen. Doch das Interesse ist geweckt. Bossong will offenbar doch mehr als Leerstelle. Gelingt es ihr?