Donnerstag, 30. Oktober 2014

Ein Referendar berichtet

recht professionell anschaulich aufbereitet in der Süddeutschen Zeitung.

Weshalb Berufsgewerkschaften zwar eher fragwürdig, die GDL aber ein positiver Sonderfall ist

Jens Berger erklärt sich auf den NachDenkSeiten zum GdL-Versteher und hat mich überzeugt.

Zum großen Zusammenstoß mit der GDL kam es 2007, als Transnet einen Tarifvertrag mit der Deutschen Bahn unterzeichnete, der es der Bahn gestattete, über fragwürdige Vertragsbedingungen neue Lokführer zu Stundenlöhnen von 7,50 Euro einzustellen. Nicht die „Lokführergewerkschaft“, sondern Transnet war laut Vertrag für diese „Lokführer zweiter Klasse“ verantwortlich, die formaljuristisch als „Mitarbeiter mit eisenbahnspezifischer Ausrichtung“ bezeichnet wurden. [...] 
Durch einen langwierigen Arbeitskampf konnte die GDL 2008 ihren ersten großen Sieg erringen und musste von der Deutschen Bahn in einem eigenständigen Tarifvertrag als vollwertige Arbeitnehmervertreterin anerkannt werden. Im gleichen Jahr unterzeichnete die Konkurrenz von Transnet ihren moralischen Offenbarungseid – der Gewerkschaftsvorsitzende Norbert Hansen wechselte ohne jegliche Übergangszeit mit fliegenden Fahnen die Seiten und heuerte im Vorstand der Deutschen Bahn AG als neuer Arbeitsdirektor an. Der Gewerkschafter, der zuvor seine Kollegen an die Deutsche Bahn verraten hatte, kassierte nun auf der Arbeitgeberseite seinen Judaslohn. Für die nicht einmal zwei Jahre, die er im Vorstand der Deutschen Bahn AG verbrachte, überwies ihm das Staatsunternehmen inkl. Abfindung stolze 3,3 Millionen Euro. Einen derart massiven Fall von Korruption (nicht juristisch, aber sehr wohl moralisch) hat es in der deutschen Gewerkschaftsgeschichte wohl noch nie gegeben.(Jens Berger: Bahnstreik – Ich bin ein GDL-Versteher!)
Sieh auch: Die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) und die Tarifeinheit

Montag, 27. Oktober 2014

Ein Generationenkonflikt einfühlsam dargestellt

“Ich wünschte, du hättest nur einen Hauptschulabschluss” sagt mein Vater. Er klatscht mir diesen Satz ins Gesicht und holt tief Luft für den nächsten, aber seine Stimme versagt. Er versinkt ins Sofa, das Leder knarzt, sonst ist es still, er krallt seine Hände ineinander und spannt sie vor die Knie. Er kann mich nicht mehr anschauen, also presst er die Augenlider zu und versucht, die Tränen zu unterdrücken. “Passt schon!” flüstert er sich zu und konzentriert sich auf seine Atmung, zieht die Luft langsam ein, pustet sie langsam wieder aus. “Passt schon!”, flüstert er ein zweites Mal und ein zweites Mal entgleitet ihm seine Stimme. Da fängt er schließlich an zu weinen.
Die spezielle Ausformung des Konflikts ist typisch türkisch, doch die Art der Darstellung so einfühlsam, dass man für viele Konflikte daraus lernen kann.

Große Leseempfehlung:

Hakan: Bruchreif, 27.10.2014

Zur Entwicklung der Demokratie in den USA

John Nichols: Von Roosevelt zu Obama: Die Aushöhlung der amerikanischen Demokratie, Bätter für deutsche und internat. Politik (10/2014, Seite 65-75) 

Französische Sicht auf Barrosos Amtszeiten



"Aus der Exekutive wurde, unter der Regentschaft Barrosos, ein einfaches Sekretariat der Mitgliedsstaaten. [...]  Wir warten immer noch auf seinen Vorschlag der Vertragsänderung, um EU zu stärken und zu demokratisieren. Dieses Versprechen machte er vor über einem Jahr..."

Jean Quatremer: Barrosos unspektakulärer Abgang, Libération

Sonntag, 26. Oktober 2014

Nullzeit oder digitale Revolution?

GERALD BRAUNBERGERNullzeit, faznet   

"Null Wachstum. Null Inflation. Null Zins. In vielen Ländern scheint die Wirtschaft zu erstarren. Doch gleichzeitig kündigt sich machtvoll eine umwälzende Revolution an. Es kann unruhig werden."

Mal wieder einer der Artikel, wo anscheinend nichts davon begriffen ist, dass wir jede Art von technischem Fortschritt, nicht nur die digitale Revolution dafür brauchen, um die Klimaerwärmung zu verlangsamen und die sozialen Folgen (Ungerechtigkeiten, Verteilungskämpfe, Kriege) in Schach zu halten, nicht aber, um Wachstum zu schaffen. Auch wenn in diesem Fall die Gefahren, die eine Umwälzung mit neuem Wachstum sich bringen wird, in den Blick kommen.

Vgl. dazu Jorgen Randers2052. Der neue Bericht an den Club of Rome. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre
"Ich glaube nicht, dass der Kapitalismus in den kommenden 40 Jahren unverändert weiter existieren wird. Der Name wird bleiben, doch die Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft wird sich auf zweierlei Arten wandeln: Investitionsströme werden nicht mehr nur von Profitabilität gesteuert werden und Unternehmen werden gezwungen sein, nicht nur über ihre finanziellen Leistungen Rechenschaft abzulegen, sondern auch über die ökologischen und gesellschaftlichen Konsequenzen ihres Handelns.
[...] Die globale Gesellschaft wird sich in den kommenden 40 Jahren wachsenden Herausforderungen gegenübersehen, deren Lösung zusätzliche Investitionen verlangt. In immer mehr Fällen wird ein Eingreifen notwendig sein, bevor diese Investitionsprojekte aus wirtschaftlicher Sicht profitabel werden. Idealerweise löst der Staat solche Probleme durch eine Anpassung der relativen Preise (die "Internalisierung externer Kosten und Nutzen"), aber dieses könnte sich in der Praxis als schwierig erweisen. Rascher geht es, wenn man die Steuern erhöht und die Einnahmen direkt in die gesellschaftlich notwendigen Projekte investiert." (S.250)

Samstag, 25. Oktober 2014

Was wir in Zukunft lernen müssen

http://imgriff.com/2011/04/18/unsere-zukunft-was-wir-wirklich-lernen-muessen/


Freilich, so leicht ist es nicht, schon das erste der 10 Ziele ist ohne eine Menge handfestes Wissen und ohne viele eintrainierte Fähigkeiten nicht zu erreichen. Das streitet der verlinkte Text auch gar nicht ab.
Trotzdem immer wieder anregend zu lesen.

Mittwoch, 8. Oktober 2014

Sprachgenies

Giuseppe Gasparo Mezzofanti "gilt als eines der größten Sprachgenies und soll 57 Sprachen verstanden, davon 38 gesprochen haben." Gustav Büscher schreibt im "Buch der Wunder" (1952) "Im Verlaufe seines Lebens erlernte er 114 Sprachen, dazu kommen 72 Dialekte. [...] Der englische Dichter Lord Byron soll von dem Kirchenfürsten, der nie seine Heimat Italien verlassen hat, den Cockney-Slang, den Dialekt der Arbeiterviertel Londons, gelernt haben." (S.89)

Emil Krebs "hat 68 Sprachen in Wort und Schrift beherrscht und sich mit 111 Sprachen (ohne Dialekte) befasst."

Richard Francis Burton "als Burtons Affinität für Sprachen zutage kam; so lernte er rasch Französisch, Latein und Italienisch, inklusive einiger Dialekte, wie Neapolitanisch. Von einer jungen Romni soll er auch Grundkenntnisse ihrer Sprache gelernt haben, was vielleicht erklären könnte, warum er in späteren Jahren überraschend schnell Hindi und andere indoarische Sprachen lernte.[6] [...] Seine Vorliebe für Sprachen motivierte ihn zum Studium der arabischen Sprache; [...] [Er] erlernte in den folgenden sieben Jahren HindustaniGujaratiSindhiPanjabiMarathi und Persisch. [...] auf Sansibar lernte Burton Swahili und infizierte sich mit der Malaria"

Lorenzo Hervás y Panduro "soll annähernd 40 Sprachen gesprochen haben. Er gilt als einer der Begründer der Historische Linguistik.[1]"

Johan Vandewalle soll "31 Sprachen beherrscht haben. Bei einem 1987 vom Provinciaal Centrum voor Moderne Talen aus Hasselt ausgeschriebenen Wettbewerb "Polyglot van Vlaanderen/Babelprijs" wurde ihm die Beherrschung von 22 Sprachen bestätigt."

Montag, 6. Oktober 2014

Projekte durchführen ist etwas ganz anderes als projektbasiertes Lernen

Getting students excited to learn is one of the most stressful, difficult, and time-consuming tasks you can imagine. However, the rewards are plentiful ... (mehr dazu in: This is the difference between ‘projects’ and ‘project-based learning’, 3.6.2014)

Kompetenz statt Wissen - ein Fortschritt?

Das hängt doch wohl von der Art der Kompetenz und der Art des Wissens ab, oder?

Mehr dazu in der NZZ vom 15.9.14
Heinrich Roth, der den Begriff der Kompetenz in den Erziehungswissenschaften propagierte, hatte noch im Anschluss an klassische emanzipatorische Konzepte als zentrales Bildungsziel die «Mündigkeit» definiert und diese als «Kompetenz für verantwortliche Handlungsfähigkeit» bestimmt. Die von ihm vorgeschlagene Unterscheidung in «Selbstkompetenz», «Sachkompetenz», «Methodenkompetenz» und «Sozialkompetenz» eröffnete allerdings die verhängnisvolle Perspektive auf eine beliebige Erweiterung der Grundkompetenzen: Derzeit wird neben der «Handlungskompetenz» gerade die «Systemkompetenz» entdeckt. [...] 
Was theoretisch noch als interessante Wende in der pädagogischen Anthropologie diskutiert werden konnte, erwies sich – kaum gelangten diese Konzepte in die Hände von Fachdidaktikern, empirischen Bildungsforschern, Schulreformern und ministeriellen Bürokratien – in der Praxis als verheerend.(NZZ vom 15.9.14)

Samstag, 4. Oktober 2014

Politikerbilder zeigen "Spuren der Macht" (Schnipsel von 1999)

Hartmut Palmer: POLITIKER. Häutungen im Zeitraffer, Spiegel 13.9.99 (alte Schnipsel aufbereitet)

Auch Banker orientieren sich an ihrem Umfeld

Discounter wie Aldi und Lidl bieten etwa 15 000 Produkte an, Vollsortimenter etwa 55 000.
Wer nach einer Warenumstellung bei seinem bewährten Supermarkt versucht hat, sich zu orientieren, weiß ein Lied davon zu singen. Nicht überall kennen sich Verkäufer in ihrem Laden aus und immer seltener sind sie bereit, einem wirksam bei der Suche zu helfen.
Spekulative Produkte für Privatanleger gibt es 1,2 Millionen. Da kennt sich der Verkäufer nur noch in dem Spektrum aus, wo er zu verkaufen sucht.

Nicht dass die Verkäufer gierig wären; Aber es fällt sehr schwer, wochenlang "schlechter" zu sein als der Kollege, wenn Umsatzziele gesetzt sind. Da ist die Versuchung, die Kunden nicht zu beraten, sondern zu verraten unheimlich groß, wenn offenbar alle anderen es auch so machen.
Ethik orientiert sich am Umfeld. Nur wenige halten an ethischen Grundsätzen fest, die von allen anderen im Umfeld als völlig deplatziert empfunden werden.

Und das politische System ist - besonders in der EU - so organisiert, dass sich kollektive Beschlüsse immer an dem Partner orientieren, der den geringsten Widerstand gegen seine Lobby leistet. (vgl.
Nina Luttmer: Die Beschützer der Finanz-Zocker, FR 22.5.14)
Dass Politiker immer häufigen nahezu direkt von der Regierung in die Lobby wandern und von dort auch ihre Kollegen bearbeiten, trägt nicht eben dazu bei, deren Widerstandskraft zu stärken. Schließlich hoffen nicht wenige ihrerseits darauf, auch einen solch attraktiven Lobbyposten zu bekommen. (Manchmal tut's auch ein Vorstandsvorsitz.)

Aktuell zum Thema:
Nina Luttmer: "Die Banker leben in ihrer eigenen Welt" (über Fähigkeiten, die in der Finanzwelt verloren gehen. FR 4./5.10.14)

Freitag, 3. Oktober 2014

Mehmed Ali

KLAUS KREISER: Das neue Ägypten
Mehmed Ali Pascha wird am Nil bis heute als Gründer der Nation verehrt. Tatsächlich löste er das Land zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus der osmanischen Erstarrung [...] Brutal schaltet er die mamlukische Elite aus, die bis dahin Ägypten dominiert hat. Am 1. März 1811 inszeniert er ein regelrechtes Massaker. Unter dem Vorwand, eine Truppenschau abzuhalten, lädt er die Notabeln ein; einige Hundert festlich gekleidete Gäste versammeln sich in Kairos Zitadelle. "Die Emire", so berichtet ein Chronist, "betraten das Haus des Paschas, wünschten ihm guten Morgen und saßen eine Zeit mit ihm zusammen, um Kaffee zu trinken, während er freundlich mit ihnen scherzte." Als die Gäste aber hinausgingen, um sich die Parade anzusehen, wendeten die Soldaten plötzlich und begannen, auf die Emire zu schießen, "wobei sie keinen einzigen verschonten".(ZEIT, 27.2.2011)
Fürst Pückler-Muskau hat ein Loblied auf Mehmed Ali gesungen, das schon damals sehr kritisch aufgenommen wurde.
Für mich legt sich gegenwärtig ein Vergleich mit Putin nahe: Nicht wählerisch bis skrupellos in seinen Methoden, andererseits nach innen Stabilisator, nach außen sehr bemüht, mit Hilfe der vorhandenen Ressourcen eine möglichst starke Position für sein Land zu erarbeiten. "Seine rigorose Modernisierung [...] hat alle fasziniert, seine expansive Politik die internationale Diplomatie über Jahrzehnte beschäftigt" schreibt Kreiser über Mehmed Ali.
 In verblüffender Parallele zur unerschütterlichen Verehrung Atatürks in der Türkei, eines anderen Pascha aus Makedonien, halten die Ägypter Mehmed Alis Andenken in Ehren – auch wenn sie von seiner raffgierigen und späterhin (unter der englischen Herrschaft von 1882 bis zum Zweiten Weltkrieg) weithin machtlosen Dynastie nichts wissen wollen. (ZEIT, 27.2.2011)