Donnerstag, 14. Oktober 2021

150 000 im Einsatz - 95 Tote

Motto: Es ist leicht, in Afghanistan einzumarschieren, aber schwer, wieder hinaus zu gelangen. (Alexander d. Große - zugeschrieben)

Ein Gutes hat es, dass die Spitzenpolitiker bei der Rückkehr der letzten Bundeswehrsoldat*innen keine Präsenz gezeigt haben: Sie haben damit für umso mehr Aufmerksamkeit gesorgt.

Angesichts des im Verhältnis zu der Gesamtgröße der Bundeswehr verhältnismäßig geringen Kontingents, das in Afghanistan stationiert war, wurde den Nicht-Beteiligten nicht klar, wie viele in diesen letztlich gescheiterten Einsatz involviert waren: In zwanzig Jahren waren es 150 000. In dieser Zeit kam es immer wieder zu Todesopfern. Im Vergleich zu den Verkehrstoten in der Bundesrepublik und den Flüchtlingen, die beim Versuch, Europa zu erreichen, ums Leben gekommen sind, waren es wenig. Aber etwa 5 Tote pro Jahr ergeben in 20 Jahren eben doch 95.

Wie viele Zivilisten sind bei Einsätzen der Truppe - versehentlich - getötet worden? Diese Zahl habe ich bei der Bilanz des Einsatzes nicht zu hören bekommen. 

"Deutschland wird am Hindukusch verteidigt" (Struck) und - seltener - "Nichts ist gut in Afghanistan" (Käsmann) dagegen mehrfach. Welcher Satz resumiert den  Einsatz besser? Haben wir daraus etwas für Auslandseinsätze der Bundeswehr gelernt?

Bundespräsident Köhler sagte in einem Interview des Deutschlandradio Kultur am 22. Mai 2010 über den Einsatz in Afghanistan:

Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.“ (Hervorhebung von Fontanefan)

Diese Diskussion wurde nicht öffentlich geführt. Statt dessen zwang man ihn zurückzutreten. 

Was Köhler aussprach, war seit Klaus Kinkel (FDP, Außenminister 1992-98) außenpolitische Doktrin*. Köhler als parteipolitischer Neuling beging den Fehler, das auszusprechen, was seit Jahren außenpolitischer Konsens war. Spätestens nach dem NATO-Angriff auf Serbien. Nur hatten damals die Alliierten die deutsche Zurückhaltung bei "Out of area"-Einsätzen der Bundeswehr akzeptiert. (vgl. mein Blogeintrag vom 8.11.2019)

Bundespräsident Joachim Gauck hatte großen Rückhalt in Regierung und Parlament, als er am 12.6.2012 formulierte:
"Die Bundeswehr auf dem Balkan, am Hindukusch und vor dem Horn von Afrika, im Einsatz gegen Terror und Piraten – wer hätte so etwas vor zwanzig Jahren für möglich gehalten? Sie, liebe Soldatinnen und Soldaten, werden heute ausgebildet mit der klaren Perspektive, in solche Einsätze geschickt zu werden – mit allen Gefahren für Leib, Seele und Leben. Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir, die Zivilen, uns bewusst machen, was Ihnen abverlangt wird und welche Aufgaben wir von Ihnen in der Zukunft erwarten. All das darf nicht allein in Führungsstäben und auch nicht allein im Parlament debattiert werden. Es muss da debattiert werden, wo unsere Streitkräfte ihren Ort haben: in der Mitte unserer Gesellschaft." (Gauck: Antrittsbesuch bei der Bundewehr) [in demselben Blogeitrag]
Ich habe damals noch auf  Artikel 87a des Grundgesetzes verwiesen, wo es in Absatz 2 heißt: "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt." 

Hier aus dem Wortlaut meines damaligen (19.6.2012) Beitrags:

"Die Bundesrepublik wird meiner Meinung nach am Hindukusch nicht verteidigt, sondern zur militärischen Absicherung eines Regimes eingesetzt, das nicht die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung findet. Deshalb ist dieser out-of-area-Einsatz meiner Meinung nach verfassungswidrig. 

Die Behauptung, dieser Einsatz sei als humanitäre Intervention gerechtfertigt, war schon von Anfang an fadenscheinig, im Laufe der Jahre ist es es noch mehr geworden. Es war ein Einsatz zur Terrorbekämpfung, der dazu geführt hat, dass Taliban und Al Kaida ihren Einfluss weit über Afghanistan hinaus bis tief nach Pakistan und in andere Staaten ausgedehnt haben." 

Meine Einschätzung hat sich seit 2012 nicht geändert.

Seit Klaus Kinkel gehört zum neuen erweiterten Sicherheitsbegriff auch der BRD, dass für die Sicherheit der Rohstoffversorgung gesorgt wird. Im Weißbuch der Bundeswehr 2006 heißt es dazu:

„Energiefragen werden künftig für die globale Sicherheit eine immer wichtigere Rolle spielen. […] Deutsche Sicherheitspolitik muss auch Entwicklungen in geografisch weit entfernten Regionen berücksichtigen, soweit sie unsere Interessen berühren. […] Deutsche Sicherheitspolitik beruht auf einem umfassenden Sicherheitsbegriff. Risiken und Bedrohungen muss mit einem abgestimmten Instrumentarium begegnet werden. Dazu gehören diplomatische, wirtschaftliche, entwicklungspolitische, polizeiliche und militärische Mittel, wenn geboten, auch bewaffnete Einsätze.“ (Weißbuch 2006)

Damit ist auch die Ausrichtung der Bundeswehr auf Auslandseinsätze begründet, in deren Logik der Umbau der Bundeswehr zu einer Berufsarmee angestrebt wird.

Zur Vorgeschichte dieser Entwicklung vgl. Sebastian Stamm: Zwischen humanitärer Intervention und Neuen Kriegen. Neue Herausforderungen für die Bundeswehr, 2006 (pdf)

vgl.  auch Humanitäre InterventionErweiterter SicherheitsbegriffStichworte zur Sicherheitspolitik (2006, pdf)

(sieh auch: apanat 31.3.2012)

Wenn Köhler nach seiner Forderung, darüber zu diskutieren, ob "im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege" zum Rücktritt gedrängt wurde, ging es darum, die von Kinkel geforderte und seit 2006 gültige Sicherheitsdoktrin der Bundesrepublik zu schützen, indem man so tat, als gäbe es sie nicht.


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