Der deutsche Schriftsteller und islamische Gelehrte Navid Kermani hat ein Buch über christliche Kunst geschrieben: "Ungläubiges Staunen". Ein Gespräch mit dem Autor über die Gründe seiner Faszination INTERVIEW:
ZEIT: Viele Katholiken erleben ihre Kirche eher als lustfeindlich. Dagegen betonen Sie die Sinnlichkeit der christlichen Kunst, überhaupt hat Ihr Buch eine sehr optimistische Ausstrahlung.
Kermani: Ein Christ hätte vermutlich keine solche Liebeserklärung an seine Religion schreiben können. Und ich könnte nicht vergleichbar von islamischer Kunst schwärmen. Man kann das Andere, die andere Person genauso wie eine andere Kultur, viel vorbehaltloser lieben.
ZEIT: Sie nennen es Ihr "eigenes Christentum", das Sie dabei entdeckt haben. Wie kam es dazu?
Kermani: Ich habe den Islam gebraucht, um mir über das ästhetische Moment in den Religionen klar zu werden. Es waren die Rezitationen des Korans, die Poesie der Sufis, die Tänze, die mystische Musik Persiens. Erst mit diesen Erfahrungen wurde mir klar, wie religiös beispielsweise Hölderlin ist, wie sehr geprägt von der eigenen, der pietistischen Mystik. Es fällt einem christlich-deutschen Leser vielleicht gar nicht auf, wie stark seine Literatur bis zu Kafka und Thomas Mann von biblischen Bezügen und metaphysischen Fragestellungen durchdrungen ist, viel stärker als etwa die französische oder angelsächsische. Jean Paul oder Büchner sind gar nicht angemessen zu begreifen ohne das Christentum. Viele der größten deutschen Dichter waren Pfarrerssöhne, sie hatten beim Schreiben die Bibel im Ohr – was nicht heißt, dass sie fromm waren.
ZEIT: Nun gibt es allerdings in den Gesellschaften des Westens seit Langem eine starke Säkularisierung. Zugleich erleben wir wieder eine intellektuelle Auseinandersetzung mit Religion. Ist das nicht paradox?
Kermani: Darin spiegelt sich lediglich die Aufdeckung eines Irrtums. Der Eindruck, dass die Religionen verschwunden seien, galt nur für einen schmalen Streifen zwischen Skandinavien und Nordspanien. Sonst war die Religion nirgendwo verschwunden. Wir haben unsere eigene Erfahrung auf die Welt übertragen und dann plötzlich gemerkt: Oh, links und rechts von uns, schon in Polen beispielsweise, ist das alles doch anders. Und angesichts des sich ausbreitenden Islamismus haben wir plötzlich gemerkt, dass uns die Verstehensmechanismen für Religion abhandengekommen sind, weil uns die eigene religiöse Tradition fernlag. Dass Religion eine Lebensform ist, eine Art und Weise, seinem Alltag einen Rhythmus zu geben, der nicht von einem selber vorgegeben ist, dass sie Menschen über sich hinauswachsen lässt im Guten wie im Bösen: Davor stehen wir oft so sprachlos. Wie kann es sein, dass sich Selbstmordattentäter umbringen für einen Glauben? Wie kann es sein, dass umgekehrt Menschen sich aufopfern für andere, dass sie sich trotz der drohenden Hinrichtung weigern zu konvertieren oder sich trotz aller Gefahren gegen den IS erheben? Wenn wir die religiösen Motive der Terroristen ernst nehmen, dann müssen wir auch die religiösen Motive derjenigen ernst nehmen, die sich enthaupten lassen oder gegen den IS kämpfen. Vielen von uns ist die Möglichkeit unverständlich, dass etwas über uns steht, das wichtiger ist als wir. Aber vor fünfzig Jahren leuchtete das vielleicht auch hierzulande der Volksfrömmigkeit noch ein.
ZEIT: Sie bekommen im Oktober in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ein anderer Preisträger, Jürgen Habermas, hat 2001 in seiner Dankesrede Religion als Ressource für unsere moderne Gesellschaft entdeckt, obwohl er selbst einräumt, "religiös unmusikalisch" zu sein.
Kermani: Ich bewundere Habermas dafür, wie er über seine eigenen Grenzen hinausdenkt, dass er nicht verurteilt, was er nicht versteht, sondern ein Potenzial erkennt. Das ist im Sinne einer intellektuellen Moralität ein beeindruckender Weg. Dabei waren die Stammväter der Kritischen Theorie religiös ziemlich musikalisch, wenn Sie an Adorno, Horkheimer und Benjamin denken, die wiederum eng mit Scholem und Bloch in Kontakt standen und sich gut in der religiösen Tradition auskannten, besonders in der mystischen. Gerade in der geistigen Schule, aus der Habermas kommt, ist ein transzendentes Moment angelegt. Dennoch tut er nicht so wie manche Talkshow-Katholiken heute, als wäre das urplötzlich seine eigene Sache. [...]
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