Mittwoch, 31. Dezember 2014

Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert

vgl Wikipedia zu: Thomas Piketty und Das Kapital im 21. Jahrhundert (Rezension im manager magazin online 11.4.14; weitere Rezensionen;  Leseprobe Link unten links)

Interessant scheint mir über das hinaus, was wiederholt an Lob und Kritik geäußert worden ist, der Vergleich  der heutigen Situation mit der vor der Französischen Revolution (Ancien Régime) und vor dem 1. Weltkrieg (Belle Epoque), z. B. S.344/45.

Insgesamt interessant die Differenzierung von kurzfristigen (bis 15 Jahre!) und langfristigen (über 70 Jahre) Entwicklungen und zwischen Erwerbs- und Kapitaleinkommen.

Am Beginn des 19. Jh. waren nach Ausweis von Balzac und Jane Austen Grundbesitz und staatliche Schuldtitel die Voraussetzungen für eine sichere Rente (S.153).

Neue Reichtumsdebatte: Etwas ist faul im Kapitalismus, Spiegel online 23.4.14

Piketty lehnt Mitgliedschaft in der Ehrenlegion ab, Spiegel online  1.1.15


Es ist eine merkwürdige Welt, wo ...

Es ist eine merkwürdige Welt, wo #Putinkritiker* Kriegshetzer genannt werden u. Kritiker bramarbasierender Außenpolitik #Putinversteher. 
So war die Welt schon immer. Ich habe mich nur noch nicht daran gewöhnt.

Differenzierung wird weniger wahrgenommen. Aber es hilft nicht gegen Fremdenhass (besser:) in Überfremdungsfurcht sich äußernde Abstiegsängste, wenn man Pegida nur abqualifiziert. 

Im Internet kann man genauso in einen Tunnelblick geraten wie im Fernsehen. 
Es sind nur unterschiedliche Mechanismen, die einem dazu verhelfen.

*oder auch so: ", , : Seltsam, daß die deutschen Lügenmedien jeden russischen Verbrecher als bezeichen." (Fettdruck von mir)
(Klickt man auf #Navalny erhält man ein widersprüchliches Bild: #Navalny)

Montag, 29. Dezember 2014

Ein notwendiger Weckruf?

POLITIK MASSENVERBLÖDUNG: Das gebildete Deutschland schafft sich ab, Die Welt, 17.8.14

Der Artikel beginnt mit der Einleitung:

"Das Wissen der Deutschen erodiert. In Neukölln etwa haben 40 Prozent der Jugendlichen keinen Schulabschluss. Dabei haben wir aus unserer Geschichte gelernt, dass Dummheit tödlich sein kann."
Er schließt:
 "Schroeders Fazit: "Die Demokratie verkauft sich schlecht, von der Schule über die Medien bis zur Politik." Und da schließt sich der Kreis: Je weniger Menschen wissen, desto größer ist ihre Anfälligkeit für autoritäre und diktatorische Systeme.
Die Deutschen haben es erlebt: Auch Dummheit kann tödlich sein."

Ein Kommentar dazu aus dem Geschichtszentrum: Das gebildete Deutschland schafft sich ab.

Ich stelle das hier so hin. Bei Gelegenheit werde ich wohl noch etwas hinzufügen.

Sonntag, 28. Dezember 2014

Welche Gefahren gehen von TISA aus?

Am 17. Dezember 2014 veröffentlichte Netzpolitik.org in journalistischer Partnerschaft mit der NGO Associated Whistleblowing Press und ihrer lokalen, spanischen Plattform filtrala.org den Verhandlungsstand. Diese Dokumente zeigten, dass die von TiSA betroffenen Dienstleistungen noch weit über das hinausgehen, was bisher angenommen wurde und aus den Wikileaks-Veröffentlichungen hervorging. Für TiSA gehört zu freiem Wettbewerb auch freier Datenfluss, den enthüllten Vorschlägen nach soll generell kein Land eine Firma daran hindern können, Informationen aller Art außer Landes zu schaffen. Die Daten von Kommunikationsanbietern sollen ungehindert zwischen Ländern ausgetauscht werden können, so heißt es: Kein Unterzeichner darf einen Diensteanbieter eines anderen Unterzeichners daran hindern, Informationen zu übertragen, auf sie zuzugreifen, sie zu verarbeiten oder zu speichern. Das schließt persönliche Daten mit ein, wenn der Vorgang in Zusammenhang mit der Ausführung der Geschäfte des Diensteanbieters steht. (Seite „Trade in Services Agreement“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 28. Dezember 2014, 14:12 UTC. URL:http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Trade_in_Services_Agreement&oldid=137178804 (Abgerufen: 28. Dezember 2014, 18:45 UTC))
Campact: Der nächste Anschlag der Konzerne in: hier-Lübeck.de Online-Magazin, 28.12.2014

Ethnische Säuberung Palästinas?

Ilan Pappe: Die ethnische Säuberung Palästinas, engl. 2006, dt. 2007, Neuausgabe 2014 (Leseprobe)

Pappes provokante Thesen 3sat 16.11.2007
"Anders als die israelische Regierung, die vom "freiwilligen Transfer" spricht, behauptet Pappe, dass die Palästinenser aus ihren Gebieten vertrieben worden seien - und zwar systematisch, nach einem Masterplan, dem so genannten Plan Dalet. Dieser Plan diente laut Pappe nicht ausschließlich der Verteidigung Israels gegen Feinde, sondern wurde für die Legitimation der systematischen Vertreibung der Palästinenser genutzt."

Ilan Pappe: Die israelische Haltung im Friedensprozess, Aus Politik und Zeitgeschichte 49/2000 bpb

The European Centre for Palestine Studies, University of Exeter


Quellen:
www.palestineremembered.com


Samstag, 27. Dezember 2014

Wie viele Wörter kannte Shakespeare? oder: die Poisson-Verteilung

Kurz gefasst schreibt Christian Hesse in Zeit online vom 26.12.14, in seinem Werk habe Shakespeare 31.534 verschiedene Wörter seines Wortschatzes verwendet. Wie viele Wörter kannte er?
Nach der Poissonverteilung, erläutert Hesse: 

"Sein Wortschatz dürfte also gut 66.500 Wörter umfasst haben. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass Konrad Adenauer einen Wortschatz von 800 Wörtern gehabt haben soll."

In den bisher 20 Kommentaren zu Hesses Artikel wird mit zum Teil recht lesenswerten Begründungen diese Berechnung angezweifelt. 

Mich interessiert viel mehr: Wie kommt die Zahl 800 für Adenauer zustande? Aus einen Memoiren nicht, aus seinen Reden nicht, denn da waren mit Sicherheit andere beteiligt.
Aber wie viele Reden und Memoirenbände hätte Adenauer wohl schreiben müssen, um nur die Hälfte der Rosensorten, Küchenkräuter, Gartenwerkzeuge und Schimpfwörter zu erwähnen, die er beherrschte?
In Shakeapeares Vokabular kommen manche Wörter vor, die auf eine erstaunliche Fachsprachenkenntnis hindeuten, von der Schimpfwortkenntnis nicht zu reden. 
Aber hätte Adenauer jemals schriftlich seine Kenntnis Kölscher Schimpfwörter verraten?

Pessimismus in Deutschland nimmt mehr zu als der Optimismus

Neuer deutscher Optimismus titelt faz.net
"Fast jeder zweite Deutsche geht laut einer repräsentativen Umfrage mit großer Zuversicht ins neue Jahr. Mit 45 Prozent habe der Anteil der Optimisten im Dezember 2014 einen neuen Höchstwert erreicht, sagte der Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski unter Berufung eine Studie des Instituts Ipsos. Ein Jahr zuvor hatten sich 44 Prozent optimistisch geäußert. Die Pessimisten sind mit 27 Prozent deutlich in der Minderheit, obwohl ihr Anteil um drei Prozentpunkte im Vergleich zu 2013 stieg." 
Natürlich hätte man auch wie ich schreiben können "Pessimismus in Deutschland nimmt mehr zu als der Optimismus" Das wäre aber keine Schlagzeile geworden, die aufgefallen wäre.

"Die Deutschen glauben: Es wird gut. Für die Gesellschaft sehen sie Schwierigkeiten - aber für sich selbst sind sie zuversichtlich." schreibt faz.net weiter. Da kommt das Erwartete nach: "Für die Gesellschaft sehen sie Schwierigkeiten".
Und schließlich wird auch das Ergebnis der Studie angedeutet: "Vor allem die Jugend."

Die Meldung ist also: Jugendliche sehen trotz der gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisen für sich selbst optimistischer in die Zukunft. (Nicht die Deutschen, nicht die Jugendlichen, aber eine größere Zahl der Jugendlichen als zuvor.) Natürlich müsste man Jugend und Jugendliche mit Hilfe der Zahlen der Studie noch genauer bestimmen.

Die Welt schreibt weit weniger optimistisch: "Knapp die Hälfte der Deutschen sieht optimistisch auf 2015"

Matthias Horx erklärte im Juni 2014 in der Huffington Post, weshalb er die Zukunft lieber positiv sieht als negativ:
"Horx: Ich stehe für einen „unbequemen Optimismus" - so hat es die Politologin Sandra Richter genannt. Pessimismus ist in unserer Kultur eine billige Ausrede geworden. Natürlich geschieht viel Schreckliches in der Welt, aber darauf mit dem üblichen „Wir-haben-es-ja-immer-gesagt" zu reagieren, halte ich für feige und verantwortungslos. Verantwortlicher Optimismus hat nichts mit „think positive" zu tun, sondern mit hartem, diszipliniertem Denken, das sich an Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten orientiert. Letztlich geht es um eine Grundempathie, die man für die Welt empfindet. Ich nenne das auch „Großmutter-Optimismus", nach meiner Großmutter Hildegard - in meinem letzten Buch „Zukunft wagen" wird das näher erklärt."
Denn;
"Allerdings ist die Vorstellung des Untergangs eine kulturelle Konstante, mit der man sehr gut Herrschaft ausüben kann. Alle Unterdrückungsideologien haben einen apokalyptischen Kern. Und wenn wir uns nur noch von Ängsten leiten lassen, dann werden wir tatsächlich untergehen. Die größte Gefahr für die Zukunft ist die kollektive Hysterie."

Mittwoch, 24. Dezember 2014

Montag, 22. Dezember 2014

Woran ich mich immer wieder erinnern will

http://www.schlau-schule.de/

http://wikis.zum.de/zum/Flüchtlinge#Fluchtgründe

http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/12155

Osterhammel über Netze

„Die Zeit zwischen der Jahrhundertmitte und dem Ersten Weltkrieg, gerade einmal sechs Jahrzehnte, war eine Periode beispielloser Netzwerkbildung.“ Es war ein „Globalisierungsschub“. Doch sie wurden „während des Ersten Weltkrieges wieder zerrissen“. (S. 1011)
"1838 entwarf Friedrich List ein Eisenbahnschienennetz" für Deutschland. (S. 1011) Dabei kann man bis 1850 noch nirgendwo in Europa von einem Netz sprechen. 

Vor den Eisenbahnnetzen standen die Kanäle, die durch die Dampfschiffahrt enormen Auftrieb bekamen. "In den Niederlanden war bereits zwischen 1814 und 1848 [...] ein geschlossenes Kanalnetz angelegt worden." (S. 1013) 
Im Überseeverkehr hielt Europa und in Europa Großbritannien eine Spitzenstellung. "1914 entfielen von der Gesamttonnage der Welthandelsflotte 45 Prozent auf Großbritannien und seine Kolonien". (S. 1016)

"Der größte Globalisierungsschub in der Verkehrsgeschichte [...] nach dem Zweiten Weltkrieg [...] Jetantrieb im Passagierverkehr. (S.1017)

"Die Versorgung wachsender Großstädte mit Nahrungsmitteln konnte erst durch die Eisenbahn garantiert werden. [...] In Afrika [...] Stichbahnen die Regel." (S.1018)
"Transsibirische Eisenbahn [...] solitärer Strich durch die Landschaft." (S.1018/19)
"In Frankreich [...] "Eisenbahnfrage" in den 1840er Jahren zu einem zentralen Thema in der Diskussion der Eliten" (S.1020)
"Die asiatischen Eisenbahnsysteme blieben - mit Ausnahme [...] - unverbunden." (S.1022)
Gesellschaften, die lange "radlos" blieben, übersprangen nicht selten das Eisenbahnzeitalter und gingen [...] unmittelbar in die Ära des Landrovers und des Flugzeugs über." (S.1023)

"Ein ausgeprägtes Netz [...] die Verkabelung der Welt." (S.1023)
"Kommunikationstechnologie konnte" [im 1. Weltkrieg] "perfekte Koordinierung der Truppenteile" noch "nicht gewährleisten." (S.1025)
"Die Reaktionsgeschwindigkeit bei internationalen Krisen erhöhte sich" (S.1026)

Obwohl die Telegraphie "zunächst ein britisches Medium" war ("Um 1890 befanden sich zwei Drittel der Telegraphenlinien auf der Welt in britischem Besitz") benutzte Großbritannien diese starke Stellung nicht, um andere Länder zu behindern oder auszuspionieren. (S.1027)
Weil der Zugang zum Telegraphen meist den Behördenchefs vorbehalten blieb, wirkte der Telegraph im Unterschied zum Telephon nicht egalisierend, sondern "hierarchisierend" (S.1027).

Industrialisierung und Industrielle sollten bei der Betrachtung des 19. Jahrhunderts aber die Kaufleute nicht verdecken. "Sie blieben die wichtigsten Verflechter der globalen Wirtschaft." (S.1031)
Der Handel lag dabei, was den europäischen Export angeht, noch weitgehend in der Hand der importierenden Länder. Bei den europäischen Importen "hatte westliches Kapital, viel früher und stärker als bei der Vermarktung eigener Produkte, die direkte Kontrolle über die Urerzeugung in Plantagen und Bergwerksenklaven erringen können." (S.1034).
Entscheidend für die Ausdehnung des Handels war die Senkung der Transportkosten. "1906 waren die Transportkosten pro Masseneinheit  zwischen Großbritannien und Indien auf 2 Prozent des Standes von 1793 gefallen. Zur gleichen Zeit kostete es nur 2- bis 3-mal so viel, eine Tonne Baumwollgüter von Liverpool nach Bombay zu verschiffen, wie sie per Bahn 45 Kilometer weit von Manchester nach Liverpool zu befördern." (S.1035)
 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, Frankfurt 2009

Osterhammel im Interview über Weltgeschichte

Mittwoch, 17. Dezember 2014

Pegida: Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes

Ich habe mich relativ lange nicht zu Pegida geäußert, denn ich habe Verständnis dafür, wenn jemand findet, dass unsere Gesellschaft nicht genügend dafür tut, dass Einheimische und Migranten einen entspannten Umgang miteinander pflegen können.
Ich denke daran zurück, dass eine Frau einmal öffentlich sagte: "Ich habe jetzt sieben Jahre für die Integration von Asylbewerbern gearbeitet. Diese sieben Jahre hat sich der Staat nicht darum gekümmert. Ich fühle mich überfordert. Wenn der Staat nicht mehr für Asylbewerber tut, muss er dafür sorgen, dass weniger zu uns kommen.
Das war vor der Konstruktion des unseligen Artikels 16a des Grundgesetzes, der - interessanterweise - als einziger Artikel zu den Grundrechten beim Umgang um das Reichstagsgebäude nicht zu finden war, als ich dort die anderen Grundgesetzartikel 1 bis 19 alle fand. Darin ist ja auch kein Grundrecht festgehalten, sondern die de-facto-Rücknahme des Asylrechts in Artikel 16.

Freilich: Wenn ich "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" lese, wird mir ganz anders. Jedes Wort, das da außer Europäer steht, widerspricht meiner Vorstellung davon, was Europa und was Deutschland in Europa sein sollte.

Noch demonstriert Pegida nicht in meiner Nähe, noch kann ich Abstand halten und mir sagen: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Große Hoffnung auf gute Früchte habe ich nicht.

Deutschland ist ein Einwanderungsland und muss als solches einen guten Umgang zwischen Einheimischen und "Reingeschmeckten" pflegen. Bis jetzt geschieht dafür zu wenig. Dass Pegida da Abhilfe schafft, scheint mir unwahrscheinlich. Aber generell alle als rechtsradikal oder dumm abzuqualifizieren, die bei Pegida mit demonstrieren, weil sie keinen besseren Ort für ihren Protest finden, scheint mir unangemessen.
Ich stimme Stephan Hebel zu, wenn er in der FR vom 16.12. über Angela Merkel, die die Unzufriedenen davor warnt, sich „instrumentalisieren zu lassen“, schreibt: "Man könnte Angela Merkel glatt applaudieren, trüge sie nicht selbst Verantwortung für die sozialen Abstiegs-Ängste, die nun – leider – nicht auf der Regierung abgeladen werden, sondern auf den Schwächsten."
Wer daran verzweifelt, dass sich die Regierung an die Starken herantraut, und deshalb versucht, wenigstens die Konkurrenz der Schwächeren gering zu halten, handelt aus einem subjektiven Notstand heraus, den die Regierung verschuldet hat.
Sich attac anzuschließen fordert Idealismus und Optimismus.
Wer glaubt, dass eine Bundesregierung nie wagen wird, die Macht der wirtschaftlich Starken einzuschränken, weil sie sich zu schwach dafür fühlt, wird beinahe tagtäglich in seiner Einschätzung bestätigt. 


Dienstag, 16. Dezember 2014

Wenn man die Uni schon verschult, ...

"Wenn man die Uni schon verschult, könnte man ja vorher auch die Schule verschulen", schreibt Herr Rau
Ein origineller Gedanke.
Freilich, nach dem, was man über die Folgen der Verschulung der Unis hört, sollte man es sich vielleicht doch besser genau überlegen.

Die wandernde Ostgrenze der EU und die Ukraine

Steffi Marungs Publikation Die wandernde Grenze - Die EU, Polen und der Wandel politischer Räume, 1990-2010 aus dem Jahr 2013 wirft Licht auf die Vorgänge in der Ukraine von 2014.
In der Vorstellung des Buchs durch das Global and Europeans Studies Institute der Universität Leipzig heißt es: Marung "zeigt, dass die EU den Entwurf ihrer Grenze mit der Schaffung eines Ergänzungsraums verband. Dabei nimmt sie nicht nur die Politik der EU, sondern auch die polnische Ost- und Europapolitik sowie die transnationale Zusammenarbeit in der polnisch-ukrainischen Grenzregion in den Blick." 

Welche Vorstellungen hat man in der EU darüber, wie die Grenze weiter wandern soll? Geht es dabei um eine Ausweitung von Einflusssphären? Wie weit soll die gegebenenfalls gehen?

Montag, 15. Dezember 2014

Angriffe auf das Streikrecht

Streikrecht in Gefahr, NachDenkseiten 15.12.14

Bildungswahnsinn?

Bestnoten für den Bildungswahnsinn ist eine flott geschriebene Kolummne von Dieter Schnaas in der Wirtschaftswoche vom 14.12.14, in dem zusammengestellt wird, worüber in den letzten fünf bis zehn Jahren in der Schule geklagt wird.
Schnaas schreibt, als hätte er das alles neu entdeckt und es brauchte nur eine weitere Reform, um die Missstände abzustellen. Missstände sind es. Aber das Kind ist seit Jahren im Brunnen und der Deckel längst versiegelt.
Bei der Einführung von Reformen sollte man vorsichtiger vorgehen. Rinn in die Kartoffeln und raus aus den Kartoffeln wie bei G8 und G9 ist gewiss kein vorbildliches Rezept.

Bio-Gemüse mit erschreckender Ausbeutung produziert

Der wahre Preis von Biogemüse: Die Realität auf einer spanischen Ökofarm widerspricht dem PR-Bild von Mensch und Natur.
BIOSKANDAL. Melonen ernten bei 45 Grad, ZEIT Nr. 31, 24.7.2014

Friedensdemonstration vor Schloss Bellevue am 13.12.14

Etwa 4000 Demonstranten haben im Rahmen des "Friedenswinters 2014/2015" in Berlin vor dem Bundespräsidialamt gegen die Nato und Bundespräsident Gauck protestiert. (Süddeutsche Zeitung, 13.12.14)
Rede des Theologen Eugen Drewermann

Pro und Contra zur Aktion "Friedenswinter 2014/15" 

Ich stimme mit keiner der hier verlinkten Ansichten überein. Sie sind mir zu undifferenziert und weitgehend zu aggressiv. Viel eher - wenn auch nicht in jeder Formulierung - finde ich mich wieder im Aufruf der 60 Prominenten: "Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!"

Aber ich stimme überein mit der Journalistin Daniela Dahn, die in ihrem Grußwort zu der teils recht einseitigen Demonstration formulierte:
"Die Debatte um Krieg und Frieden ist zu wichtig, um sie den Eliten zu überlassen, sie gehört ins Parlament, in die Gesellschaft und in die Friedensbewegung."
Und ich stimme überein mit Hannah Beitzer, die in der SZ Daniela Dahn zitiert, wenn sie hinzufügt:
"Das ist richtig. Ganz egal, wie groß das gegenseitige Unverständnis manchmal auch ist."
Deswegen mache ich hier noch einmal auf diese Demonstration aufmerksam, die m.E. zu Unrecht in den Medien abqualifiziert wurde, ohne dass auf dort gefallene Argumente eingegangen wurde.

Der ehemalige norwegische Ministerpräsident Stoltenberg hat sich als NATO-Generalsekretär zwar beängstigend an die kriegbegünstigende Redeweise seines Vorgängers angepasst, deshalb ist er aber noch nicht Teil einer Verbrecherbande. Verantwortlich kann ich die Politik, die er vertritt, deshalb aber auch nicht nennen.

Es gilt zu deeskalieren, nicht Konflikte anzuheizen.

Sonntag, 14. Dezember 2014

Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, ...

Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. (Lukas 21, 28)

Predigten zum Advent:

 Lukas 21,25‑33 zum 2. Advent 




Samstag, 13. Dezember 2014

Ölpreisschock oder Ölpreismanipulation?

Erdöl ist extrem knapp. Deshalb werden höchst umweltgefährliche Techniken eingesetzt, um die letzten Reserven vorzeitig aus den Tiefen zu holen, die in Zukunft als Rohstoff, aber nicht als Energielieferant wichtig sein werden. In der Situation kommt die Schlagzeile:
Venezuela: bald Pleite. Russland und Nigeria: akut gefährdet. Das reiche Norwegen: unter Druck. Der niedrige Ölpreis ist für viele Länder gefährlich. Der Absturz kann für die Welt zum Albtraum werden. (Die Welt, 13.12.2014)
Es war kein unvorbereiteter Schock, sondern lange vorbereitet. 

Einige Schlagzeilen:

13.10.2014: Kampf um den Ölpreis




Die letzte Änderung der deutschen Wikipedia am Artikel zur OPEC war am 27.11.14
Die englischsprachige Wikipedia zählte allein am 13.12.14 bis 21:14 75 Änderungen ihres Artikels.

Donnerstag, 11. Dezember 2014

Mittwoch, 10. Dezember 2014

Gesellschaft der Angst

Heinz Bude: Gesellschaft der Angst, 2014 Rezensionen: Deutschlandfunkwdr, Spiegel
Heinz Bude: Generation Null Fehler, ZEIT 20.9.14
Heinz Bude im Gespräch: Das Produktivitätsproblem Deutschlandfunk 12.10.14

"Doch der Wohlfahrtsstaat alter Prägung hat sich der direkten Verantwortung für seine Bürger entzogen und die Fürsorge an den Markt delegiert. Die "Angst" vor dem Abstieg sei heute wieder eine persönliche Angelegenheit, konstatiert Bude. Insbesondere die Generation nach den Babyboomern, die in den 1970ern Geborenen, sei betroffen. Sie bilde den Prototyp des modernen Individuums: ehrgeizig, fleißig und sehr unentspannt. Der Mensch, thirty something, stehe immer kurz davor, alles zu verlieren - zumindest glaubt er das." (Deutschlandfunk)

Johano Strasser: Gesellschaft in Angst, 2013

Dienstag, 9. Dezember 2014

Wie sich Anna Pritzkau die Welt erklärt

"Die Sache ist einfach: Solange Putin an der Macht ist, solange seine Macht immer größer wird, solange er sich mit voller Entschlossenheit gegen die westlichen Werte erhebt, bleibt er der Antrieb der neuen Wahrheitssucher in Deutschland, und ihre Bewegung wird wachsen. Und wenn er dann doch eines Tages zurücktritt, gestürzt oder abgewählt wird, oder einfach so, weil er es kann, für immer auf einem großen, weißen Pferd davonreitet? Dann erst werden die Friedensbewegten aufhören, ihre Wahrheit und ihren Hass montags dem Brandenburger Tor entgegenzubrüllen." (Verschwörungsjournalismus, faznet)
Solange Putin an der Macht ist, werden die 60 zu ihrem Aufruf gegen Eskalation stehen.
Danach werden sie? Ja, was werden sie?
Sicherlich sich Anna Pritzkaus Weltsicht anschließen, oder?

"Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!"

Zur Ukrainekrise äußern sich Roman Herzog, Antje Vollmer, Wim Wenders, Gerhard Schröder, Erhard Eppler, Gabriele Krone-Schmalz und andere in einem Aufruf, aus dem ich einen Gedanken besonders hervorheben möchte:
"Bei Amerikanern, Europäern und Russen ist der Leitgedanke, Krieg aus ihrem Verhältnis dauerhaft zu verbannen, verloren gegangen. Anders ist die für Russland bedrohlich wirkende Ausdehnung des Westens nach Osten ohne gleichzeitige Vertiefung der Zusammenarbeit mit Moskau, wie auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Putin, nicht zu erklären.
In diesem Moment großer Gefahr für den Kontinent trägt Deutschland besondere Verantwortung für die Bewahrung des Friedens. Ohne die Versöhnungsbereitschaft der Menschen Russlands, ohne die Weitsicht von Michael Gorbatschow, ohne die Unterstützung unserer westlichen Verbündeten und ohne das umsichtige Handeln der damaligen Bundesregierung wäre die Spaltung Europas nicht überwunden worden."
 Ich habe wiederholt in dem Sinne argumentiert und bedaure deshalb, dass von Seiten der meisten Parteien im Bundestag aus einer sehr EU-zentristischen Sicht diese Überlegungen abgetan werden.

Goethe, Kindersoldaten und Afghanistan

Sigrid Damm: Goethes Freunde in Gotha und WeimarFR

Indien: Kindersoldaten in ethnischen Konflikten, FR 9.12.14

vgl. auch Menschenrechtsverletzungen in Manipur
Autonomie und Sezessionsbestrebungen (pdf)

Thmas Ruttig: Afghanistan: Ein Patt auf hohem Gewaltniveau, FR 9.12.14
"Im ersten Halbjahr 2014 starben 1564 Zivilisten, 17 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres." Die Verluste des Militärs ANSF seit Anfang 2013 betragen 9800 Tote

vgl. auch Ruttig zur Präsidentenwahl

Montag, 8. Dezember 2014

Deutschpflicht

Dazu zunächst einmal Twitter #Deutschpflicht und YallaCSU

Sven Seele hat es getroffen:
 "Wenn es keine CSU gäbe, wäre der Job des Satirikers in Deutschland um einiges anstrengender. "

Und so ergießt sich jetzt billiger Spott über den Hinweis, dass man Fremdsprachen lernt, indem man sie spricht.

Ein CSU-Parteitagsantrag wo zum häuslichen Deutschsprechen "angehalten" werden sollte, war falsch formuliert am falschen Ort. Der Gedanke ist völlig richtig.

Sinnvoll ist natürlich nicht eine Deutschpflicht, sondern die Unterstützung des Elternhauses beim Deutschlernprozess. Wenn nach zehn Jahren Aufenthalt in Deutschland Schulkinder noch deutliche Defizite im Deutschen haben, ist es bei Migranten genauso wie bei Deutschen hohe Zeit, etwas dagegen zu tun. Bei genauer Beobachtung hätte man auch schon früher umschalten können.

Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, zu Hause bei der Muttersprache zu bleiben, wenn Kinder wie Eltern auch so im Deutschen gut voran kommen. Die Empfehlung für das eine oder andere sollte allerdings nicht von Politikern kommen, sondern von den Sprachlehrern.
Zweisprachigkeit ist ein hohes Gut. Die problemlose Beherrschung der Verkehrssprache aber auch.

Dazu auch SZ vom 8.12.14
"Jeder wird die Ansicht teilen, dass Migranten in Deutschland nur dann heimisch werden sowie das Land nur dann bereichern können, wenn sie Deutsch lernen. [...] Dabei sind sich alle Sprachwissenschaftler einig: Türkische oder syrische Eltern helfen ihren Kindern am besten, indem sie sie in den deutschen Kindergarten schicken und ihnen ein Vorbild sind, indem sie selbst Deutschkurse belegen - keineswegs aber, indem sie beim Abendessen mit ihnen radebrechen."
Mit der SZ stimme ich völlig überein, auch wenn wegen der unterschiedlichen Zielgruppe meine Akzente anders gesetzt sind.

Samstag, 6. Dezember 2014

Arabisch-israelischer Konflikt

ZERUYA SHALEV: Das gebrochene Herz, ZEIT 24.7.14, S.42
"Solange die Palästinenser nicht bereit sind, die Juden in Israel zu akzeptieren, wird es keinen Frieden geben."

HISHAM MELHEM: Die Barbaren sind unter uns. Die arabische Zivilisation ist zusammengebrochen, ZEIT 6.12.14
"Es gibt nicht den geringsten Beleg dafür, dass sich der politische Islam mit moderner Demokratie versöhnen lässt. Von Afghanistan unter den Taliban bis nach Pakistan und Saudi-Arabien, vom Iran bis in den Sudan existiert keine einzige islamistische Ordnung, die man als demokratisch und gerecht oder einfach nur als Beispiel für ein gut regiertes Gemeinwesen anführen könnte."
Den Aufsatz von Melhem halte ich für sehr mutig. Sicher ist er überspitzt formuliert. Doch die Entwicklung der arabischen Revolutionsversuche sind in der Tat wenig hoffnungsreich.
Fehler sind aber gewiss nicht nur von arabischer Seite gemacht worden.

Donnerstag, 4. Dezember 2014

Nachwuchsprobleme der Wissenschaft

oder auch Probleme des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Heutzutage ist man im Durchschnitt über 40 Jahre alt, bevor man als Wissenschaftler eine Daueranstellung an der Universität bekommt.

Mehr dazu (sam Leserkommentaren) in  ZEIT online vom 4.12.2014

Montag, 1. Dezember 2014

Osterhammel zu "Arbeit" im 19. Jahrhundert

„Im Okzident wurde 'Arbeit' gleichzeitig zu einem hohen Wert und zu einer bevorzugten Kategorie der Selbstbeschreibung. […] Königinnen ließen sich in der Öffentlichkeit mit Strickzeug sehen. (S.959)

„Die klassische Industriegesellschaft war ein flüchtiger Moment in der Weltgeschichte. Nur in wenigen Ländern, in Großbritannien, Deutschland, Belgien und der Schweiz, war die Industrie für mehr als ein halbes Jahrhundert der führende Beschäftigungssektor. […] Selbst in den industriell leistungsfähigsten Ländern, den USA und Japan, überflügelte Industriearbeit niemals die Beschäftigung in Landwirtschaft und Dienstleistungssektor.“ (S.961)

Landarbeit
In China und Indien waren die "Bauern im Prinzip rechtlich freie Leute, sie erzeugten einen Teil ihrer Produktion für den Markt" (S.968) "Dennoch barg vor allem [...] der Geldverleih viele Möglichkeiten, schwächere Mitglieder der Dorfhierarchie in Abhängigkeit zu bringen." (S.967)
"Die chinesische Agrarverfassung [...] war bei weitem freiheitlicher als die ländliche Ordnung im Osten Europas." (S.969) 
"Landarbeit blieb das ganze Jahrhundert fast überall Handarbeit." (S.970)

Plantagen
"Plantagen erwuchsen nicht aus der langsamen Kontinuität lokaler Entwicklungen. Sie wurden durch ausländische Intervention gegründet [...] Kapital und Management der neuen Plantagen des späten 19. Jahrhunderts kamen unweigerlich aus Europa oder Nordamerika." (S.971)
"[...] oft einer solch strengen Disziplin unterworfen, dass sich die Bedingungen von denen auf manchen Sklavenplantagen nicht deutlich unterschieden. Das Verlassen des Arbeitsplatzes wurde als Verbrechen bestraft." (S.971)
Die Plantagen hatten "oft eine industrielle Komponente", da "die Weiterverarbeitung des Urprodukts am selben Ort geschieht." (S.972)

Haciendas
Die Hacienda war nach dem Modell einer patriarchalischen Familie konstruiert." (S.973)
"Die Abhängigkeit der peones lag weniger in offenen Zwangsverhältnissen begründet als in einer Verschuldung beim haciendado, die an die Kreditbeziehungen zwischen einfachen Bauern und dominanter Elite in chinesischen oder indischen Dörfern erinnert." (S.973)
In Mexiko "löste die Politik der republikanischen Epoche [...] das Kommunaleigentum der Indios weitgehend auf und überließ sie ungeschützt den Gewinninteressen der haciendados." (S.974)
[Insofern war die spanische Kolonialmacht für "die Indios eine Schutzmacht" gewesen, "wenngleich keine verlässliche".]

Orte der Arbeit: Fabrik, Baustelle, Kontor
Fabrik
"Manchmal blieb die Fabrik ein freistehender Komplex auf dem 'Lande', so zum Beispiel in Russland, wo um 1900 über 60 Prozent aller Fabriken außerhalb von Städten disloziert waren." (S.977)
In der Seiden- und Baumwollindustrie in Japan herrschten "entsetzliche Arbeitsbedingungen".[...] vor allem Krankheit führte dazu, dass drei Viertel der Frauen weniger als drei Jahre in der Fabrik zubrachten." (S.979)
Kanalbau
"Der Kanalbau war um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer der fortschrittlichsten Industrien geworden." (S.980)
Beispiel: Sueskanal. "Über die Gesamtzahl der  eingesetzten Fellachen fehlen Daten. Man schätzt, dass monatlich 20 000 neu zur Baustelle kamen und dass insgesamt 400 000 Ägypter am Kanal arbeiteten." (S.983)
Eisenbahnen
"Die transkontinentale Eisenbahn [...] war das letzte umfassende Ingenieurprojekt in den USA, das überwiegend durch Handarbeit realisiert wurde." (S.985)
In Indien waren in fünf Jahrzehnten "über zehn Millionen Arbeiter beteiligt". "Auf dem Höhepunkt des Bahnbaus im Jahre 1898 waren um die 460 000 Inder gleichzeitig im Einsatz." (S.986)
Arbeitsplatz Schiff
In den ersten Jahrzehnten der Dampfschifffahrt änderte sich an dem hohen Personalbedarf wenig. Da sich gleichzeitig das Volumen des Schiffsverkehrs aller Art bedeutend steigerte, gerade auch im Binnenverkehr auf Flüssen [...]  erlangte der Arbeitsort Schiff im 19. Jahrhundert den Höhepunkt seiner Bedeutung. Das Schiff blieb, was es in der frühen Neuzeit gewesen war: ein kosmopolitischer Raum mit Mannschaften aus aller Welt. Ebenso war es neben dem Militär und der Plantage der am stärksten mit Gewalt aufgeladene Arbeitsplatz." (S.987)
Walfang:"1840 waren vierjährige Fangexpeditionen [...] nicht unüblich. Den Rekord hielt die Nile, die im April 1869 nach elfjähriger Abwesenheit ihren Heimathafen in Connecticut anlief." (S.988)
Kontor und Haushalt
"Die Ausweitung von White-collar-Tätigkeiten schuf neue Funktions- und Geschlechterhierarchien. Der Arbeitsmarkt für Frauen wuchs in diesem 'tertiären' Bereich, zu dem auch der Einzelhandel [...] gehörte." (S.989)
"[...] so gehörte die Beschäftigung als Dienstbote in einem Haushalt zu den ältesten Gewerben dieser Welt." (S.990)
[In Russland gingen junge Frauen, die vom Land kamen, eher in private Dienstverhältnisse als in Fabriken.] "In Moskau verfügten 1882 mehr als 39 Prozent aller Haushalte über Personal, in Berlin waren es immerhin etwa 20 Prozent." (S.991)
"Häuslicher Dienst war eher eine lokale Beschäftigung [...]  Die Globalisierung häuslicher Dienste [...] ist eine Erscheinung erst des späten 20. Jahrhunderts." (S.992)

Pfade der Emanzipation in der Arbeitswelt

Sklaverei
1808 erklärten "gleichzeitig (und unabhängig voneinander) Großbritannien und die Vereinigten Staaten den / internationalen Sklavenhandel für illegal" (S.992/3)
USA: "Es dauerte nach dem Bürgerkrieg noch ein volles Jahrhundert, bis sich die Schwarzen ihre wichtigsten Bürgerrechte in der Praxis erkämpft hatten." (S.993)
"Ex-Sklaven waren schwache und besonders verwundbare Menschen ohne natürliche Verbündete in der Gesellschaft." (S.994)

Leibeigene
[Leibeigene waren etwas weniger unfrei als Sklaven. Dafür gab es in der Gesellschaft einen viel größeren Anteil.] 
"Die Überwindung beider Systeme verlief zeitlich exakt synchron." (S.999)

Bauernbefreiung
"Die 'alte' Freiheit der europäischen Bauern war im Dorf und in der Beziehung zum Herren ausgelebt worden; die 'neue' Freiheit des 19. Jahrhunderts konnte einen Rahmen nicht überschreiten, den der regelnde Staat setzte. Selbst die überzeugtesten Liberalen erkannten mit der Zeit, dass keine Märkte so stark nach politischer Regelung riefen wie die Agarmärkte. So wurde im letzten Viertel des Jahrhunderts die Agrarpolitik geboren, von der bäuerliche Existenz in Europa seither abhängig geblieben ist." (S.1004)

Die Asymmetrie der Lohnarbeit
Am Ende der Bauernbefreiung gab es auf dem Land die agrarischen Unternehmer und die Lohnarbeiter. Aber es gab eine Übergangsphase. Mit einer Art 'Beugehaft' konnten die Arbeitgeber oft noch die Aufrechterhaltung eines Arbeitsverhältnisses erzwingen. "So schlummerte in freien Lohnarbeitsbeziehúngen noch jahrzehntelang ein Rest von Arbeitszwang." (S.1007)
Zusammen mit mit Stanley Engerman hat Robert Fogel in Time on the Cross. The economics of american negro slavery 1974 nachgewiesen, "dass Sklavenarbeit [...] mindestens ebenso effizient und rational war wie freie Arbeit [...]." Es gab also keinen ökonomischen Zwang zur Abschaffung der Sklaverei.

Arbeitsmarkt ohne Gleichgewicht
"Erst die Einschränkung der Freiheit des Marktes durch Bildung von Verhandlungsmonopolen auf der Arbeiterseite gab den Einzelnen Freiheit von den Machtmitteln der Käufer von Arbeitskraft [...] Freie Arbeit […] entstand aus der sozialstaatlich motivierten Einschränkung unbegrenzter Vertragsfreiheit.“ (S.1008)
Der frühe Sozialstaat ersetzte Fürsorge durch das „Prinzip der Pflichtversicherung“. (S.1008)
„Es gibt nur zwei grundsätzliche Überlebensstrategien der Schwachen: Anlehnung an Stärkere oder Solidarisierung mit anderen Schwachen. Die erste Option war generell die sicherere.“ (S.1009)

Freitag, 28. November 2014

Wie der Staat Infrastruktur und Rentner preisgibt, um Großkonzerne zu subventionieren

Der Staat verrät beide Generationen: die ältere über die Riesterrente, die jüngere durch die Verweigerung von Zukunftsinvestitionen.

Dass viele Angebote bei der Riesterrente nicht das Geld wert waren, was Staat und Rentner dafür bezahlten, ist inzwischen bekannt.
Doch bei sinkendem Zinsniveau sind selbst solche Angebote für die Versicherer nicht mehr lukrativ.
Schon gar nicht, wenn man wie die Allianz 7% Rendite erwartet. Deshalb wollen die Versicherungskonzerne nicht mehr versichern, sondern lieber Autobahnen bauen. Bei garantiertem Zinssatz natürlich.
Den Staat kostet das zwar über 80% höhere Finanzierungskosten. Die kann er aber wieder hereinholen, indem er weniger investiert und niedrigere Renten zahlt. "Zwar ist es Wahnsinn, doch es hat Methode." Man nennt es PPP („Public-private-Partnership“).

Was das im einzelnen bedeutet, erläutert Jens Berger auf den NachDenkSeiten genauer.

Übrigens: Damit man solchen Irrsinn als rational verkaufen kann, hat vorausschauend eine Zweidrittelmehrheit die Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben.

Zur Erinnerung: Der Staat erhält gegenwärtig im Normalfall zum Nulltarif  Kredit, zahlt aber lieber unsinnige Prozentsätze, damit er von der schwarzen Null schwärmen und der jungen Generation eine marode Infrastruktur hinterlassen kann.

Donnerstag, 27. November 2014

Wer ist Souverän: Das Volk oder Monsanto?

Sehr geehrter Herr Schmidt,

 demnächst sollen EU-Staaten den Anbau von Gentechnik auf ihren Feldern leichter verbieten können. 
Doch es besteht eine hohe Hürde: Gentechnik-Konzerne müssen an dieser Entscheidung beteiligt werden. 
Ich fordere Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass Konzerne nicht über ein Anbauverbot mitentscheiden – so wie es das Europaparlament fordert. 
Das Anbauverbot muss jederzeit möglich sein und auf Grundlage der Umwelt-Gesetzgebung der EU erfolgen, damit der vorsorgende Schutz von Umwelt, Verbraucher/innen und Landwirt/innen möglich ist. 

Mit freundlichen Grüßen

Hier kann man mit wenigen Klicks unterschreiben und absenden.

Mittwoch, 26. November 2014

Zwei Worte und ein "Jugendwort"

"Und so blicken wir wir heute auf das, was irgendwann zwangsläufig Alltag in einer gespaltenen Gesellschaft werden wird: Die Benachteiligten reagieren mit offener Gewalt." (Arnd Festerling in FR vom 26.11.14 über Ferguson)
"Es ist der Moment, den Gedanken eines verängstigten Europas fallen zu lassen, um ein Europa zu erwecken [...], das auf den Menschen schaut und ihn verteidigt [...], ein kostbarer Bezugspunkt für die gesamte Menschheit!" (Papst Franziskus vor dem EU-Parlament in Straßburg, 25.11.14 - Die vollständige Rede findet sich in der SZ)
Das "Jugendwort des Jahres 2014", das an sich ein einzelnes Wort sein soll, lautet "Läuft bei dir".

Dazu ein Kommentar von Jonas Jansen, faz.net, 24.11.14
"Anfang Oktober erschien auf der amerikanischen Seite 4chan ein Aufruf, doch bitte das Wort „fappieren“ zu wählen. 4chan ist bekannt für Trollaktionen und geschmacklose Bilder, die an der Grenze zur Legalität und manchmal jenseits ihrer liegen. Der Aufruf führte dazu, dass „fappieren“, was für Selbstbefriedung bei Jungen stehen soll, mit fast 50 Prozent der Stimmen auf Platz 1 der Online-Wahl landete. Wählen konnte man anonym und immer wieder. Das geht, weil Langenscheidt bei einer früheren Wahl mal feststellte, dass viel weniger Leute ihre Favoriten wählen, wenn man sich anmelden muss, wie eine Verlagssprecherin dieser Zeitung mitteilte. Was für eine Überraschung!"

Meine Zusammenstellung ist nicht zufällig. Jeder wird sich seinen eigenen Kommentar dazu machen.







Auch ich wünsche mir, dass "Läuft bei dir" ein treffender Kommentar für EU und die Menschheit wird und nicht "fappieren".

Montag, 24. November 2014

Weitere Zitate aus Osterhammel: Lebensstandards. Risiken und Sicherheiten materieller Existenz

Lebensstandards: Risiken und Sicherheiten materieller Existenz

"'Lebensstandard' ist eine sozialgeschichtliche, 'Lebensqualität' eine historisch-anthropologische Kategorie." (S.253)

Geographie des Einkommens
Osterhammel betrachtet das - geschätzte - Bruttosozialprodukt pro Kopf in ausgewählten Ländern der Welt von 1820 bis 1913 (S.255) und stellt fest:
"Die USA und Australien zogen bereits vor dem Ersten Weltkrieg an den europäischen Spitzenreitern vorbei." (S.256)

Lebensverlängerung und 'Homo hygienicus'
"Vor 1800 erreichten nur kleine Elitepopulationen wie der englische Hochadel oder die Bourgeoisie von Genf männliche Lebenserwartungen von über 40 Jahren." (S.257)

Gewonnene Lebenszeit
"Die durchschnittliche Lebenszeit (zum Zeitpunkt der Geburt) der Weltbevölkerung lag um 1800 bei höchstens 30 Jahren, [...] Der Tod kam typischerweise durch schnell ablaufende Infektionskrankheiten. Er hatte 'spitzere Waffen' (Arthur E. Imhof) als heute" (S.258)

Sauberes Wasser
Dass [...] eine Wasserpolitik entstehen konnte, setzte die Anerkennung von Wasser als öffentlichem Gut voraus. Wasserrechte mussten definiert und staatliche von privaten Ansprüchen getrennt werden. Die Herausbildung umfassender rechtlicher Bestimmungen für das Eigentum und die Nutzung von Wasser, auch für seine industriellen Verwendungen, war ein langwieriger und extrem komplizierter Prozess. Sogar im zentralistischen Frankreich wurde er erst 1964 abgeschlossen [...]" (S.261)

[1849 stellte John Snow fest, dass Cholera durch verunreinigtes Wasser übertragen wird. Seine Ansicht brauchte allerdings 15 Jahre, bevor sie sich halbwegs allgemein durchsetzte. 
In London wurden die eindrucksvollsten Leistungen beim Bau von Abwasserkanälen erbracht. Bis 1886 waren es 1 300 Meilen.]
"Technisch gesehen, hätte man die viktorianischen Abwasseranlagen schon ein Jahrhundert früher bauen können. Es war eine Frage der Problemwahrnehmung [...]" (S.263)
"Das muslimische Westasien wurde von europäischen Reisenden immer wieder für die hohe Qualität seiner städtischen Wasserversorgung gerühmt." (S.263)

Niedergang und Wiederaufstieg öffentlicher Gesundheitsverhältnisse
"Sobald neues Wissen über epidemische Zusammenhänge sowie die Technologie, dieses Wissen umzusetzen, bereitstanden, verloren die großen Städte ihre 'Übersterblichkeit' [dazu sieh: Sterblichkeit] und wurden gesündere Lebenswelten als das platte Land." (S.265)
"Die Einführung von Gesundheitssystemen war überall auf der Welt ein tiefer Einschnitt. (S.266)


Seuchenangst und Prävention
Große Tendenzen
"Zu den als neu empfundenen Leiden der Epoche gehörte die Tuberkulose." (S.269)
"In der Bevölkerung hielt sich die Vorstellung von 'Tbc' als einem vererbbaren Leiden, das möglichst verborgen werden müsse, während die Medizinbürokraten möglichst viele Fälle registrieren wollten. Auch die Fabrikanten hielten gern an der Vererbungstheorie fest, sahen sie doch keine Notwendigkeit, die Bedingungen am Arbeitsplatz zu verbessern. (S.270)

[Im 19. Jahrhundert gab es zwei gegenläufige Tendenzen. Einerseits konnten Krankheiten besser bekämpft werden, andererseits breiteten sie sich wegen verstärkter Migration und verbesserten Verkehrsmitteln schneller aus.]
"Nun wurden Seuchen immer schneller transportierbar. Der Höhepunkt war mit der weltweiten Grippeepidemie von 1918 erreicht, die je nach Schätzung 50 bis 100 Millionen Menschen tötete." (S.271)

Der Kampf gegen die Pocken
[In China beginnend, dann auch in Indien und dem Osmanischen Reich wurde seit dem späten 17. Jahrhundert die Inokulation, ein recht riskantes, aber oft erfolgreich immunisierendes Verfahren eingesetzt. Doch erst 1796 fand Edward Jenner die Möglichkeit der vergleichsweise risikolosen Schutzimpfung.]
"Vor Edward Jenner, der die schützende Wirkung der viel schwächeren Kuhpocken für den Menschen entdeckte, gab es noch kein unriskantes und für ganze Populationen verwendbares Verfahren der Pockenprophylaxe." (S.272)
"Napoleon ließ 1800 die ersten Schutzimpfungen vornehmen [...] Ägypten war schneller als Großbritannien. Dort wurde die Immunisierung erst 1853 Pflicht [...]. (S.272)
"Die Notwendigkeit der Nachimpfung wurde lange nicht verstanden." [gemeint: erkannt]  (S.273)
"Um die Mitte der 1820er Jahre waren die Pocken aus Jamaika verschwunden, [...] früher als ich den meisten anderen Teilen der Welt." (S.274) [Weil Sklaven nicht mehr ohne weiteres neu beschafft werden konnten, bemühte sich die Kolonialverwaltung sehr darum, sie vor Infektionen zu schützen.]

[ Im 19. Jahrhundert hat man vornehmlich Erfolge bei der Prävention von Krankheiten gehabt, erst im 20. Jh. kamen dramatische Erfolge bei der Heilung: In den USA sank das Risiko, an einer Infektionskrankheit zu sterben von 1900 bis 1980 auf unter 5%.]

Mobile Gefahren, alt und neu
Die Pest
[Große Ausbrüche gab es im 19. Jahrhundert vor allem in Indien und in China (und zwar am Ende des  Jahrhundert und bis ins 20. hinein. Vermutlich ist die moderne Pest aber eine andere Krankheit als der 'Schwarze Tod' im Mittelalter.]

Cholera
Obwohl Koch den Bazillus schon 1884 entdeckt hatte "dauerte es noch weitere zwanzig Jahre, bis eine einfache und billige Therapie gefunden wurde." (S.283/84)

Typhus und Fleckfieber
"Fleckfieber ist neben Typhus und Ruhr die klassische Kriegsseuche." (S.290)

Naturkatastrophen
[Die schwersten und traumatisierendsten Erdbeben lagen 1755 (in Lissabon) und 1906 (San Francisco), also außerhalb des 19. Jh.]
Vulkane 
[Tambora 1815, Krakatau 1883. Die Folge des Ausbruch des Tambora war eine Kälteperiode, die sich besonders schwer in der Schweiz und im südlichen Rheinland auswirkte.]
Überschwemmungen
[Die intensivsten Erfahrungen sammelte China mit den Ausbrüchen des Gelben Flusses aus seinem Dammsystem. Trotz guter Vorsichtsmaßnahmen und des Einsatzes von 100 000 Helfern konnte 1855 nicht verhindert werden, dass der Fluss sich ein neues Bett suchte und 300 km entfernt von der alten Mündung ins Meer floss. ]
Hunger
"Die opferreichsten [...] Hungersnöte im Asien des 19. Jahrhunderts spielten sich in Indien und China ab." (S.307)
[Aber chinesische Distriktbeamte berichteten Probleme an die Zentrale und:] "Der chinesische Staat kam solchen Hilferufen in einem Maße nach, das in Europa keine Paralelle hatte." (S.312)
"In den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wurden 5 Prozent der gesamten Getreideernte des Reiches in öffentlichen Speichern aufbewahrt." (S.312)
Nach Opiumkrieg und Taiping-Revolution "erhielt die Nahrungsmittelversorgung des Militärs Vorrang vor der zivilen Katastrophenhilfe." (S.313)

Revolutionen der Landwirtschaft

"Die eigentliche 'Agrarrevolution' fand dann im späten 18. Jahrhundert in England statt [...] Sie führte dazu, dass bereits um 1800 ein englischer Landarbeiter doppelt soviel erzeugte wie ein russischer und die Weizenproduktion pro Hektar in England und den Niederlanden fast doppelt so hoch war wie fast überall sonst auf der Welt." (S.317) "Noch 1950 kamen 85 Prozent der Zugkraft in der europäischen Landwirtschaft von Pferden." (S.318)
Die spanische Landwirtschaft erholte sich nicht davon, dass mit den Juden und Muslimen, "von denen die letzten 1609 vertrieben worden waren" auch das "agrikulturelle Wissen" verloren ging. (S.318)

Armut und Reichtum
Reichtum
"Die Spitzen des englischen und russischen Adels [...] gehörten noch Ende  des 19. Jahrhunderts zu den vermögendsten Leuten der Welt." (S.324) 
Die "größten amerikanischen Privatvermögen" lagen "um 1860 bei 25 Millionen Dollar" , vierzig Jahre später bei 1 Milliarde. "Um 1900 war der reichste US-Amerikaner zwölfmal vermögender als der reichste Europäer" (S.327)
Vor 1848 gab es in den USA, Frankreich, England und Deutschland noch "sehr reiche Männer mit demokratischen oder gar radikalen politischen Ansichten". "Spätestens in den 1880er Jahren war die klassische Plutokratie des Fin de Siècle entstanden. [...] Reichtum war mit Interessenvertretung durch konservative und rechtsliberale Parteien nahezu identisch geworden." (S.327)
"In China gab es vor der Mandschu-Eroberung von 1644 keine landbesitzende Erbaristokratie [...]  Eher Bildung als Besitz qualifizierte für die Zugehörigkeit zur Elite." (S.328)
In Japan gab es in der Edo-Zeit "eine Epoche des demonstrativen Konsums". Manche Fürsten wurden "durch die unentrinnbare Eigendynamik des Prunkwettbewerbs an den Rand des Ruins getrieben". (S.329) 
"Japan war nach 1870 eine viel 'bürgerlichere' Gesellschaft als Preußen, England oder Russland. [...] Wohlstand durch private Bauten zu demonstrieren, schickte sich nicht." (S.329)
"Vielerorts in Asien und Nordafrika war korporatives Vermögen von mindestens ebenso großer Bedeutung wie Kirchenbesitz in Europa vor Reformation und Französischer Revolution." (S.330)  Z.B. Clans, Tempel, Klöster, muslimische Heiligenschreine und "fromme Stiftungen" (waqf).
"Private Vermögensakkumulation erfolgte im 18. und 19. Jahrhundert auffällig oft in den Händen religiös-kultureller Minderheiten, die häufig großräumige Geschäftsnetze unterhielten: Juden, Parsen, Armenier, Griechen im Osmanischen Reich, Chinesen in Südostasien." (S.330)

Armut
"Die entscheidende Minimalmarkierung für Wohlstand war [...] die kontinuierliche Beschäftigung von Hauspersonal, auch in einer gemieteten Wohnung. Von dort war es noch ein weiter Weg über shabby gentility bis zu ausgesprochener Armut."(S.330)
"Im subsaharischen Afrika war der Besitz von Land ein weit weniger wichtiges Kriterium als die Kontrolle über Abhängige. Viele Herrscher im vorkolonialen Afrika besaßen kaum mehr lagerbare Schätze als ihre Untertanen. Sie hoben sich durch die Zahl ihrer Frauen, ihrer Sklaven, ihres Viehs und durch die Größe ihrer Getreidespeicher hervor. [...] Ein Armer war in Afrika jemand, der sich in einer besonders verletztlichen Lebenslage befand und der geringen oder gar keinen Zugang zur Arbeitskraft anderer hatte. Am Boden der Gesellschaft fanden sich diejenigen, die unverheiratet, kinderlos und vielleicht sogar noch wegen körperlicher Behinderung arbeitsunfähig waren. Selbst wenn sie oft besser ernährt waren als jene, um die sich niemand kümmerte, gehörten auch Sklaven zweifellos zur Schicht
der Ärmsten." (S.331)
"Im südlichen Afrika begann Armut schon vor dem Ersten Weltkrieg eine Form anzunehmen, wie sie aus den dicht besiedelten Gesellschaften Europas und Asiens bekannt ist: Landlosigkeit mehr als physische Behinderung des Einzelnen wurde zur Hauptquelle von materieller Depravation. Staatlich unterstützte Landaneignung durch Siedler war eine typische Ursache dieser Art von Armut." (S.332)
"Profile von Einkommen und Lebensstandard [kann man] überhaupt nur im städtischen Raum erheben."  (S.332)
Die Zahl arbeitsfähiger Männer in britischen Arbeitshäusern ist ein guter Indikator für das Ausmaßextremer städtischer Armut. Diese Zahlen gingen zwischen 1860 und dem Ersten Weltkrieg nicht signifikant zurück. [...] Es ist unmöglich, für das 19. Jahrhundert Armut weltweit zu quantifizieren. (S.333)

Bettelei und Mildtätigkeit
"Die Tatsache, dass in Deutschland und einigen anderen Ländern Europas gegen Ende des 19.Jahrhunderts allmählich ein Wohlfahrtsstaat aufgebaut wurde, sollte nicht davon ablenken, dass dies in vielen Teilen der Welt auch eine Epoche fortgesetzter und neu motivierter philanthropischer Bemühungen um die Armen war." (S.333)
"In Ägypten setzte sich eine alte Tradition von Generosität und Almosenspendung fort. Diese Generosität hatte nach den Geboten des Islam nicht ostentativ in der Öffentlichkeit, sondern diskret ausgeübt zu werden." (S.334) "Ägypten unterschied sich freilich in
mehrfacher Hinsicht vom nördlichen Europa: [...] Die Armen verschwanden nie aus der Öffentlichkeit, sondern machten ihre Ansprüche geltend, anders als etwa die städtischen Unterschichten Englands, bei denen seit den 1860er Jahren die Entgegennahme von Armenfürsorge und erst recht Bettelei als peinlich und entwürdigend galten. Bettelfreiheit ist ein historisch ganz seltener Zustand, und er wurde vermutlich vor dem 20. Jahrhundert fast niemals erreicht.(S.334) 

Globalisierter Konsum
"Die umfassendste interkontinentale Wechselwirkung von Ernährungspraktiken war bereits im 16. Jahrhundert erfolgt. Dieser Columbian Exchange hatte europäische Nutzpflanzen und Tiere in der Neuen Welt eingeführt und amerikanische Pflanzen nach Asien und Europa gebracht. [...] Die Kartoffel brauchte seit der Ankunft der ersten Knollen kurz vor 1600 etwa zweihundert Jahre, bis sie in Ländern wie Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien zum wichtigsten Grundnahrungsmittel wurde. Schon viel früher hatte die
Einführung ertragreicherer Reissorten die Produktion in Südostasien und China erheblich gesteigert.(S.335)
"Die amerikanische Maniok-Wurzel wurde in Afrika heimisch gemacht, [...]. Heute ist Maniok in den tropischen Teilen Afrikas die am weitesten verbreitete Nahrungspflanze." (S.336)
Kulinarische Mobilität
"Seit dem Goldrausch der Jahrhundertmitte waren Italiener in Kalifornien ansässig. Bald immigrierten sie in / viele andere Teile der USA. Sie brachten den Durum-Weizen mit, den
man für italienische Pasta benötigt." (S.336/37) 
"In keinem europäischen Land spielten aus Übersee importierte Nahrungs- und Genussmittel eine größere Rolle als in Großbritannien. Die East India Company hatte, vor
[...] die Briten zu einer Nation von Teetrinkern erzogen. [...] Der einzige andere exotische
Import, der über den engen Kreis des Luxuskonsums hinaus die Ernährung der breiten Bevölkerung veränderte, war der Zucker. [...] Der eigentliche Aufstieg
des Zuckerkonsums fand aber erst im 19. Jahrhundert statt. Die Zuckerproduktion auf der Welt verdoppelte sich zwischen 1880 und 1900 und nochmals von da an bis 1914. Der Anteil von Zucker an der durchschnittlichen Kalorienversorgung der Briten soll im Laufe des Jahrhunderts von 2 Prozent auf 14 Prozent gestiegen sein." (S.338)
"Es war eine der großen Tendenzen des 19. Jahrhunderts auf dem Ernährungssektor, dass die Industrialisierung auch die Herstellung von Fleisch erfasste und den Fleischmarkt
zu einem transkontinentalen Geschäft machte. [...] Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nahm in Westeuropa der Fleischkonsum auch der Unterschichten deutlich zu. Zwischen den 1860er und den 1890er Jahren verdoppelte sich der Fleischverbrauch englischer Arbeiterfamilien auf mehr als ein Pfund pro Kopf in der Woche. Die Japaner [...]  bekehrten sich von vegetarischer Ernährung zum Verzehr von Fleisch. [...] 1876 wurde erstmals argentinisches Rindfleisch per Kühlschiff nach Europa gebracht." (S.339)
"Romantische Sozialtypen wie der nordamerikanische Cowboy und der argentinische Gaucho waren das mobile Proletariat einer weltweit operierenden Fleischindustrie. [...]
1905 wurden 17 Millionen Tiere getötet. Es ist kein Zufall, dass eine der schärfsten literarischen Attacken auf den amerikanischen Kapitalismus, Upton Sinclairs Roman The Jungle (1906), seinen Schauplatz in den Chicagoer Schlachthöfen hat [...]." (S.340)

Warenhaus und Restaurant
"Die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion in der westlichen Welt [...] stand in einem wechselseitigen Zusammenhang mit anderen Aspekten des sozialen Wandels. Eine steigende Berufstätigkeit von Frauen in der Unterschicht und unteren Mittelschicht verminderte die für Haushaltsarbeit übrige Zeit und erhöhte den Bedarf an Fertigprodukten.
[...] Der Übergang vom Markt zum Laden [...] war eine notwendige Begleiterscheinung
der Industrialisierung und Internationalisierung der Nahrungsmittelproduktion.
Auch die spektakulärste Erfindung im Handel des 19.Jahrhunderts, das Warenhaus, setzte die standardisierte Massenproduktion vieler der angebotenen Waren voraus." (S.341)
"Eine weitere Neuheit, [...] das Restaurant, ist keine europäische Erfindung. Mehr spricht für die Polygenesis dieser Form kommerzieller Verpflegung. Von Schenken, Tavernen und Wirtshäusern aller Art, wie es sie seit frühen Zeiten in zahlreichen Zivilisationen
gegeben hat, unterscheidet sich das Restaurant durch zwei Eigenschaften: Auf der einen Seite machte es Kochkunst von einer Qualität, die bis dahin nur an Höfen und im privaten Raum der Residenzen von Reichen ihren Ort hatte, jedem zugänglich, der es sich leisten konnte. Das Restaurant demokratisierte den guten Geschmack. Auf der anderen Seite war der Restaurantbetreiber ein freier Unternehmer, der ein Produkt und eine Dienstleistung anbot, ohne sich durch Zünfte und Gilden binden zu lassen. [...]  Die Französische Revolution zerstörte den königlichen Hof mit seiner auch kulinarischen Prachtentfaltung und machte eine große Zahl von Privatköchen der [...] Aristokratie arbeitslos. So entstand ein neues Angebot auf einem neuen Markt: Die Kochkunst wurde einem zahlungskräftigen städtischen Bürgertum zugänglich. [...] zu den großen Attraktionen von Paris für den aufblühenden Luxustourismus gehörte die einzigartige Spitzengastronomie der Metropole. [...] [Wohl seit] den 1860er Jahren [...] entwickelten sich Fish & Chips zur identitätsstiftenden Lieblingsmahlzeit der britischen Arbeiterklasse" (S.343)
"Spitzenküche konnte [...] in China viel früher in die Öffentlichkeit gelangen. Was in Frankreich nach der Revolution geschah, war damals in China schon eine Selbstverständlichkeit. [...] Offensichtlich ist das Restaurant eine ostasiatisch-europäische
Doppelerfindung mit einem deutlichen ostasiatischen Vorsprung, aber keinem Hinweis darauf, dass Europa das Restaurant in einer ähnlichen Weise aus China übernommen hätte, wie es sich im 18. Jahrhundert in der Gartenkunst anregen ließ.
Mit veränderten [...] Konsumgewohnheiten verbanden sich neue Formen der Vermarktung. [...] Die 1880er Jahre sahen die Geburt des Markenartikels und seiner Verbreitung durch marketing, also durch generalstabsmäßig ausgetüftelte Strategien der Markt-'Eroberung'. (S.344) [...] CocaCola gehörte [...] zur ersten Generation der großindustriellen Nahrungs-
und Genussmittelproduktion [...] Die zentralen Produkte dieser Branche von Heinz' Ketchup über Kellogg's Cornflakes bis zu Lever's Margarine waren allesamt Kreationen des Labors. Markenartikel verbreiteten sich rasch um die Welt." (S.345)
"Ein weiteres Element des neuen Marketingkomplexes, ein entscheidendes für die Reichweite seiner Marktdurchdringung, war der Versandhandel, selbstverständlich auch er
eine amerikanische Erfindung. [...] Eine unerlässliche Voraussetzung war die Eisenbahn, eine weitere Erleichterung die Auslieferung auch von schweren Paketen durch die staatliche Post seit 1913. [...] In den frühen 1980er Jahren hat die Geschichtsforschung den Konsumenten und die Konsumentin wiederentdeckt [...]. Wann begann die Konsumgesellschaft? [S.345] Mögliche Kandidaten: "England im 18.Jahrhundert", "das China der Zeit zwischen etwa 1550 und 1644". "China hat sich dann allerdings nicht in diese
Richtung weiterentwickelt [...]. Globalhistorisch interessant ist vor allem die Frage, in welchem Maße bereits im 19. Jahrhundert euro-/amerikanische Konsummuster und Konsumziele in der übrigen Welt übernommen wurden. (S.346/47)
"In der Belle Epoque um die Jahrhundertwende erreichte die Identifikation der lateinamerikanischen Oberschicht mit der Zivilisation und Warenwelt Englands und Frankreichs ihren Höhepunkt. [...]  Die gesamte Urbanität Lateinamerikas erhielt ein europäisches Gepräge, denn nicht nur Kleidung und Mobiliar wurden importiert, sondern auch die typischen Institutionen des zeitgenössischen Europa: das Restaurant, das Theater, die Oper, der Ball. Französische Spitzenköche wurden abgeworben, und bei den offiziellen Feierlichkeiten zum Jubiläum der Unabhängigkeit 1910 wurde kein einziges mexikanisches Gericht serviert. [...]  Ein Höhepunkt des Imitierens europäischer Referenznormen war die
Übernahme der schweren englischen Herrenkleidung in subtropischen und tropischen Klimazonen. [...]  In Rio de Janeiro und vielen anderen Städten hatten sich Herren bei allen Temperaturen und Feuchtigkeitsgraden im Pinguin-Kostüm zu zeigen: schwarzer Cutaway mit gestärktem weißem Hemd und weißer Weste, Krawatte, weißen Handschuhen und Zylinder. Damen aus wohlhabenden Kreisen zwängten sich in Korsetts und hüllten sich in Lage um Lage schwerer Stoffe. [...] Solches Martyrium war der Preis von 'Zivilisiertheit'. (S.348)
Lange Wege zur 'Zivilisation' hatten jene tropischen Kulturen zurück/zulegen, in denen auch die Oberschicht traditionell nicht in europäischer oder islamischer Bedecktheit öffentlich aufzutreten pflegte. (S.348/49) König Chulalongkorn, der Reformer Siams, gab sich alle Mühe, seinen Untertanen eine geschlossenere Kleidung nahezubringen. [...] In Lagos hatte sich schon in den 1870er und 1880er Jahren eine kleine Gruppe westlich orientierter Afrikaner in Gehröcken und aufwendigen Damenkleidern ein geselliges Leben mit Kirchgang, Ball, Konzert und Cricket-Match geschaffen. Gandhi, der große Symbolpolitiker und Freund von Sparsamkeit, kehrte den Prozess später um: Aus dem spätviktorianischen Stutzer, als den ihn frühe Photographien zeigen, wurde der nackte Fakir», wie Winston Churchill ihn schmähte. [...] Stärker war hingegen die kulturelle Widerständigkeit in West- und Ostasien. Sultan Mahmud 11. hatte für die hohe osmanische Bürokratie Herrenkleidung westlichen Stils vorgeschrieben. [...] Im Straßenbild Istanbuls
waren Männer noch lange vorwiegend traditionell gekleidet, Frauen wurden nicht vor den 1870er Jahren in europäischer Kleidung photographiert. (S.349)
[...] nach dem politischen Systembruch der Meiji-Renovation von 1868 - öffnete sich Japan dem Westen und initiierte eine Modernisierungspolitik, die neue Organisationsformen für Staat, Justiz und Wirtschaft direkt aus Europa und, sekundär auch den USA, übernahm.
Dieser sehr weitgehenden strukturellen Europäisierung entsprach aber keineswegs eine ähnlich weitgehende Entjapanisierung des privaten Lebens. Die Vorzüge etwa der tradierten japanischen Kleidung wurden nicht aufgegeben. Zwar erschienen die Spitzen des Meiji-Staates bis hin zum Kaiser seit einem Staatsratsbeschluss von 1872 in Gehrock, Zylinder und
Uniformen westlichen Stils, [...] doch hielt sich im häuslichen Bereich die japanische Kleidung. [...] Der Hut wurde zu einem universalen Symbol von Bürgerlichkeit. Der japanische Staatsdiener stellte ihn ebenso zur Schau wie ein afrikanischer oder indischer Rechtsanwalt oder sonntags der bessergestellte Arbeiter in der polnischen Industriestadt Lodz. [...] In China war die Widerständigkeit gegen westliche Konsummuster noch größer als in Japan. Westliche Kleidung fand überhaupt erst durch die Militärreformen der Qing-Dynastie nach 1900 Eingang in die chinesische Kleidungspraxis. Noch auf Photographien und Filmausschnitten aus der Zeit der nationalistischen Protestbewegung von 1919 [...] sieht man die politisch radikalen und oft mit europäischer Kultur gut vertrauten Professoren und Studenten Pekings in den traditionellen bodenlangen Gelehrtengewändern voranschreiten.(S.350) 
"Man findet aber auch den umgekehrten Effekt einer europäischen Akkulturation an asiatische Sitten. [...] Die umgekehrte Akkulturation war im Indien des 18.Jahrhunderts an der Tagesordnung [...]  Im 19. Jahrhundert war dergleichen noch in Niederländisch-
Ostindicn möglich. (S.351) Dort hatten sich die Weißen im 18.Jahrhundert so weit orientalisiert, dass die Briten, die während der Napoleonischen Kriege Java von 1811 bis 1816 besetzt hielten, sich dort sehr um die 'Zivili/sierung' der angeblich dekadenten Kolonialholländer sorgten: Den Männern sollte das unverheimlichte Konkubinat mit einheimischen Frauen, den Holländerinnen das Faulenzen, Betelkauen und Tragen orientalischer Kleidung abgewöhnt werden. Ohne großen Erfolg [...] (S.351/352)
"Es kann nicht deutlich genug betont werden, dass die Anlehnung an
europäische Muster in sehr vielen Fällen ein kultureller Vorgang auf freiwilliger
Grundlage war. Kolonialbehörden und Missionare mochten gelegentlich nachhelfen, doch war dies keineswegs die Regel. (S.352) Auf der Insel Madagaskar [...] entstand seit den 1820er Jahren eine phantasievolle Architektur europäischer Amateurbaumeister. [...] Jean Laborde [...] baute 1839 einen neuen Palast für die Königin, geschickt einheimische
Stilelemente mit Neugotik verbindend und das Ganze durch europäische Bautechnik stabilisierend." (S352) "Spätere Baukünstler führten Granitfassaden, Balkone und romanische Rundbögen ein. So entstand ein neuer amtlicher Stil, der der Hauptstadt Antananarivo, wo die Hofdamen neue Pariser und Londoner Mode trugen, ein unverwechselbares Aussehen verlieh. Dabei gehörte die Merina-Monarchie keineswegs zu den eifrigsten Selbst-Verwestlichern der Zeit. Mehrfach wurde das Land politisch nach außen abgeschlossen, und man hegte ein tiefes Misstrauen gegenüber den Absichten der Europäer." (S.353)
"Lebensstandards, als Ensemble materieller Umstände oder Maß von physischem
Wohlbefinden verstanden, sind teils für größere abgegrenzte Gesellschaften im Wesentlichen identisch, teils sozial und regional, nach Geschlecht und Hautfarbe innerhalb solcher Gesellschaften ungemein differenziert. Die epidemologische Situation zum Beispiel kann für Mitglieder einer Gesellschaft auch dann sehr ähnlich sein, wenn es große
Einkommensunterschiede zwischen ihnen gibt. Reiche waren vor Pocken und Cholera nicht sicherer als Arme. Lebensstandards lassen sich einerseits ungefähr quantifizieren und in eine Rangordnung bringen: In der Schweiz «lebt es sich» heute zweifellos besser als in Haiti. Andererseits besitzen einzelne Gesellschaften und Gesellschaftstypen unterschiedliche
Maßstäbe: Reichtum unter Reisbauern ist etwas anderes als Reichtum unter Beduinen oder unter Ladenbesitzern. Gesellschaften und soziale Gruppen in ihnen unterscheiden sich dadurch, was sie als 'Krankheit' wahrnehmen und in welcher Sprache sie darüber reden. Es gibt Krankheiten, die für bestimmte Epochen charakteristisch sind. Um die Jahrhundertwende klagte man in Mitteleuropa über 'Neurasthenie', ein Befund und Ausdruck, der heute aus der Medizin so gut wie verschwunden ist. Umgekehrt kannte das 19.Jahrhundert den Begriff 'Stress' noch nicht, der in den 1930er Jahren aus der physikalischen Materialkunde übernommen wurde. [...] Das 19.Jahrhundert war, weltweit und in seiner gesamten zeitlichen Erstreckung gesehen, zweifellos eine Zeit, in der sich die materiellen Lebensumstände eines großen Teils der Weltbevölkerung verbesserten. (S.353)
"Interessanter ist, dass keineswegs alle Tendenzen immer in dieselbe Richtung weisen, dass sie sich sogar oft widersprechen. Dafür gibt es viele Beispiele: In Großstädten erzielten viele Menschen im frühen 19. Jahrhundert ein höheres Einkommen als auf dem Lande, aber oft unter schlechteren Umweltbedingungen. [...] Oder auf einem anderen Gebiet, der Ernährung: In Europa war ein 'langes' 18. Jahrhundert, das bis in die 1840er Jahre reicht, noch ein Jahrhundert des Hungers gewesen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts machte sich dann aber in Europa die 'Delokalisation' des Hungers bemerkbar, also die Beschaffbarkeit von Nahrungsmitteln über große Entfernungen hinweg [...]. Das Beispiel
der indischen Hungersnöte zeigt jedoch, dass eine solche Erweiterung der Zirkulation für wirtschaftlich schwächere Erzeugerregionen fatale Folgen zeitigen konnte. Fortschrittsopfer finden sich daher nicht allein unter denen, die 'zurückblieben' oder von den Neuerungen gar nicht erreicht wurden. [...] Viele Aspekte von Lebensstandard hat dieses Kapitel nicht behandelt. Weniges zum Beispiel offenbart den Charakter einer bestimmten Gesellschaft
besser als die Art und Weise, wie sie mit Schwachen umgeht: mit Kindern, Alten, Behinderten, chronisch Kranken. Es müssten daher Geschichten der Kindheit und des Alters erzählt werden." (S.354)
(J. Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2009)