Dr. Pichler: "Tito hatte aber nicht vorgesehen, dass jemand nach seinem Tod seinen Platz einnehmen sollte, das wäre auch nicht möglich gewesen. Stattdessen übernahm das Präsidium der Republik die Regierungsgeschäfte. Die acht Mitglieder setzten sich aus je einem Vertreter der sechs Teilrepubliken und der zwei autonomen Provinzen zusammen. Das Problem bestand darin - und das verdeutlichte bereits die Kosovokrise –, dass Tito ein weitgehend dezentralisiertes Land hinterließ, dem die Kraft des Zusammenhalts abhandengekommen war. Es ist natürlich hypothetisch und man kann nur spekulieren, aber wäre Tito 1981 noch am Leben gewesen, wäre die Krise in Kosovo nicht derart eskaliert. Es wäre auf jeden Fall nicht diese Pattsituation entstanden, die den Konflikt ohne realistische Lösungsansätze verfestigte. Tito hatte auch bei vielen Albanern in Kosovo hohes Ansehen genossen, nicht bei den Nationalisten und radikalisierten Studenten, aber in breiten Teilen der Bevölkerung. Letztlich kann man diese Frage aber nur spekulativ beantworten, denn die Baustellen, die Jugoslawien zu bewältigen hatte, waren vielfältig und komplex. [...]
Im Nachhinein sieht es so aus, als wäre der Krieg und die Unabhängigkeitserklärung der Kosovoalbaner die einzige Möglichkeit gewesen. Als Historiker gilt es aber teleologische Betrachtungen so gut es geht zu vermeiden. Und man muss die Dinge auseinanderhalten. Die Unvereinbarkeit von Positionen muss nicht notwendigerweise zu Krieg und Unabhängigkeit führen. Die Gründe, warum ein Konflikt eskaliert, sind sehr komplex. Natürlich kann man sagen, dass vor dem Hintergrund politischer Kompromissverweigerung unter den gegebenen Bedingungen eine Eskalation naheliegend war, aber diese war keinesfalls zwingend. Man könnte hier viele Eventualitäten aufzählen, beginnend mit der Bewaffnung der Kosovoalbaner, die ohne Plünderung der Waffendepots im benachbarten Albanien 1997 nicht in dem Maße möglich gewesen wäre. Genau in dieser Zeit formierte sich die UÇK, die kosovarische Befreiungsarmee. Hätte die NATO Milošević nicht mit einem Ultimatum gedroht, wenn er die Zustimmung für den Rambouillet-Vertrag verweigert, hätte ein Angriff möglicherweise vermieden werden können. Hätte Milošević sich auf ernsthafte Verhandlungen eingelassen, wären die Albaner zu Zugeständnissen jenseits der Unabhängigkeit bereit gewesen usw. Man kann viele Möglichkeiten anführen, die zu einem anderen Ergebnis geführt hätten und es hätte Möglichkeiten gegeben, dass der Konflikt nicht eskaliert, ohne dass entgegengesetzte Standpunkte sich dadurch aufgelöst hätten. Die Geschichte hängt ganz maßgeblich von den Akteuren, und nicht so sehr von den Umständen ab, in diesem Fall haben sie auf Krieg gesetzt, weil sie damit eine größere Erfolgswahrscheinlichkeit verbanden. Die Albaner haben lange Zeit die bewaffnete Option ausgeschlossen, weil sie keine Chance darin sahen und hofften, mit diplomatischen Mitteln zum Erfolg zu kommen. Der "zivilisierte" Westen hat diesen Weg aber nicht honoriert. Er hat den Kriegstreibern Recht gegeben. Dayton hat jene bestätigt, die den Krieg angezettelt haben, und die Kosovofrage blieb ausgeklammert. Die Lehre, die viele junge, desillusionierte Albaner aus Dayton gezogen haben war, dass eine militärische Eskalation eher zum Ziel führt als Verhandlungen. Dafür musste viel Leid in Kauf genommen werden, aber heute sieht man es mehrheitlich so, dass dieses Leid erforderlich war, um die Freiheit zu erlangen. Dafür hat der Krieg neue Heldenlegenden hervorgebracht, die den bewaffneten Widerstand heroisieren und die nationale Unabhängigkeit zementieren, die in Schulbücher Eingang finden und so das kollektive Gedächtnis prägen. Hinzu kommt, dass die herrschenden politischen Eliten nationalistische Inszenierung am besten beherrschen. Dagegen mit Konzepten ziviler Konfliktbewältigung anzukämpfen, ist schwierig - ein Kreislauf, aus dem es nur schwer ein Entkommen gibt. Deshalb liegt vieles im Argen und sehr viele, vor allem junge Menschen, würden sofort in den Westen ziehen, wenn man ihnen die Chance dazu geben würde. Das ist leider das desillusionierende Ergebnis dieses Konfliktes, wobei, auch hier gilt, dass man Vorsicht walten lassen muss, um nicht der Teleologie des Scheiterns zu erliegen."
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