Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz: „Aus Vorsicht sagt man lieber nichts“ FR 1.9.2023 Interview von Michael Hesse
"[...] Gibt es Unterschiede zwischen dem rechten und linken Antisemitismus?
Auf der äußersten Rechten gehört Antisemitismus, also Feindschaft gegen Juden, zur ideologischen Grundausrüstung. Das kann man auf der linken natürlich überhaupt nicht sagen. Und jetzt wird die Sache komplizierter. Wenn man Antisemitismus definiert als Judenfeindschaft, dann kommt das auf der Linken nicht vor. Wenn man jede Form von Abneigung gegen Israel, Antizionismus, jede Kritik am Regierungshandeln israelischer Politiker, wie es heute sehr verbreitet ist, als Antisemitismus wertet, dann gibt es das natürlich auch stärker und in größerem Maße auf der linken Seite.
Wie genau lässt sich Antisemitismus definieren?
Ein Antisemit ist einer oder eine, der oder die die Juden nicht mag, weil sie Juden sind. So trivial und schlicht ist das im Grunde. Die wissenschaftliche Betrachtung differenziert eine klassische Judenfeindschaft, die religiös motiviert ist, an der beide christlichen Kirchen eine große historische Schuld haben. Das ist der Antijudaismus, der Juden ablehnt, weil sie die Heilsbotschaft des Christentums verweigern. Das ist die erste Form, der Nährboden, die klassische Form von Judenfeindschaft. Darauf gründet dann, im 19. Jahrhundert entstanden, die Judenfeindschaft, die jetzt den Oberbegriff für alle Formen gibt, den Antisemitismus.
Was unterscheidet diesen?
Das ist die Judenfeindschaft, die nicht die religiöse Überzeugung, sondern die „Gene“, das „Blut“ in Anspruch nimmt. Sie behauptet, scheinbar wissenschaftlich fundiert, die vermeintliche Andersartigkeit, die Schlechtigkeit, die Verworfenheit der Juden beweisen zu können. Da sprach man von arischem und nicht-arischem „Blut“ und derlei Unsinn. Wir wissen heute, dass es keine Rassen gibt. Aber es gibt weiterhin Rassismus, die prägende Form der Judenfeindschaft ist der Antisemitismus, der seit dem 19. Jahrhundert mit dem Höhepunkt der Hitler-Herrschaft genetisch mit pseudo-wissenschaftlichen Behauptungen argumentiert. Es gibt dann die Judenfeindschaft nach dem Holocaust, aus Schuldumkehr, aus Schuld und Scham geboren. Die Gelehrten nennen das den sekundären Antisemitismus. Und dann gibt es den Hass gegen die Juden, weil es Israel gibt. Das ist im Augenblick der sensibelste Punkt. Das führt auch zum größten Politikum. Was darf man sagen? Ist man Antisemit, wenn man sagt, der israelische Ministerpräsident treibt eine verwegene Politik? Aus Vorsicht sagt man lieber nichts. [...]
Warum durfte die Nakba-Ausstellung nicht auf dem Kirchentag gezeigt werden? Was sagt das über die Diskussionskultur in Deutschland aus?
Eigentlich ist das Ausdruck einer demokratischen Katastrophe, die wir gerade erleben. Dass man aus Furcht, das Falsche zu tun, lieber schweigt und regelrechte Schweigegebote errichtet. Die Nakba, also der Heimatverlust der Palästinenser, der Hand in Hand mit der Staatsgründung Israels geht, wird einfach aus dem deutschen Bewusstsein entfernt. Alle begrüßen wir mit gutem Recht die Gründung Israels als Heimstatt für die Juden. Aber wir tun so, als sei Israel im luftleeren Raum entstanden. Und wenn die evangelische Kirche wie jetzt auf dem Kirchentag sich daran beteiligt und sagt, wir wollen davon nichts wissen, das darf es nicht gegeben haben, dieses Ereignis, dann ist das katastrophal. Es ist doch keinerlei Schuldvorwurf damit verbunden, wenn man der Nakba gedenkt und über sie spricht. Man fordert damit doch nicht den Untergang Israels, sondern will nur auch des Leides der anderen gedenken. Solange das nicht geschieht, wird es keinen Frieden in der Region geben. Stattdessen soll die Tatsache im allgemeinen Bewusstsein getilgt werden. Wenn der Deutsche Bundestag unter der Flagge „Antisemitismus bekämpfen“ einen Beschluss gegen die BDS-Boykott-Aktion fasst und meint, er habe damit jetzt ein starkes Zeichen gegen den Antisemitismus gesetzt, dann ist das ein Irrtum, dann ist das Teil einer Verweigerungshaltung, historischen Realitäten ins Auge zu sehen. [...]
Die rechtsgerichtete israelische Regierung hat einen erheblichen Einfluss auf die deutsche Meinung. Das funktioniert natürlich auch über die Antisemitismus-Beauftragten, die es in Bund und Ländern und Behörden gibt, die mit großem Eifer und oftmals weniger Sachkenntnis ihre Tätigkeit ausüben und ein offenes Ohr haben für alles, was unterdrückt werden muss, weil es nicht in die offizielle Linie einer philosemitischen Kultur und bedingungsloser Israel-Liebe passt. [...] Die deutsche Regierung verhandelt ja nicht mit irgendwelchen Leuten, sondern muss ihre Gespräche mit der israelischen Regierung führen, das sind ganz selbstverständliche Tatsachen. Die färben aber ab. Das führt zu einem allgemeinen Drang zu äußerstem Wohlverhalten, dass Bürgermeister und Kommunen kritischen Wissenschaftlern keine öffentlichen Räume mehr zur Verfügung stellen, dass Auftrittsverbote ausgesprochen werden. [...] Die Empathie für den Staat Israel als deutsche Staatsräson ist so selbstverständlich geboten, wie die Solidarität angesichts feindlicher Bedrohung des Landes. Kritik an politischen Handlungen ist aber auch Freundespflicht, wie einst Bundespräsident Johannes Rau mahnte."
"[...] Benz vertiefte den Vergleich in seinem 2010 veröffentlichten Werk Die Feinde aus dem Morgenland. Wie die Angst vor den Muslimen unsere Demokratie gefährdet. Gemeinsam sei antisemitischen wie islamophoben Vorurteilen „die Einteilung in Gut und Böse sowie das Phänomen der Ausgrenzung“. Ein grundlegender Unterschied sei, dass es „heute nicht mehr um die Emanzipation der Juden, sondern um die Integration der Muslime“ gehe.[18] Benz betonte später, er habe nie Islamfeindlichkeit und Antisemitismus gleichgesetzt, sondern „die Methoden der Ausgrenzung verglichen“. So wie es eine Methode „irgendwelcher ‚Experten‘“ gewesen sei, Judenfeindschaft zunächst mit Inhalten des Talmud und später aus rassistischer Sicht durch „jüdische“ Gene zu begründen, die Juden „zum Bösen geführt“ hätten, gebe es heute Experten, die ähnlich argumentierten: „Was früher Talmud-Hetze war, ist jetzt Koran-Hetze. Man stigmatisiert eine Minderheit als gefährlich, weil es ihr angeblich die Religion befiehlt.“[19] So beurteilte Benz auch die Aussagen von Thilo Sarrazin zur genetischen Disposition von Juden und anderen Gruppen als rassistisch.[20] Auch den Verschwörungstheoretiker Udo Ulfkotte kritisierte Benz scharf. Ulfkotte beschwöre eine „muslimische Weltrevolution“ und einen „geheimen Plan zur Unterwanderung nichtmuslimischer Staaten“. Dies entspringe nur seiner Fantasie, genüge den Fremdenfeinden aber als Versicherung, so wie die Protokolle der Weisen von Zion Antisemiten genügten.[21] [...]"
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