Dienstag, 30. April 2019

Osterhammel:Sklavenemanzipation und "Weiße Vorherrschaft"

Die postemanzipatorische Rassengesellschaft im Süden der USA

In keinem anderen Land war die Abschaffung der Sklaverei von einer solch dramatischen Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten begleitet wie in den USA. Schon während des Bürgerkrieges hatten Hunderttausende von Afroamerikanern ihr Schicksal in die eigene Hand genommen, hatten als free blacks aus dem Norden oder entflohene Sklaven aus dem Süden auf Unionsseite gekämpft oder einen anderen Beitrag zur Kriegsführung des Nordens geleistet, hatten sich im Süden herrenlosen Landes bemächtigt. [...]
Wem bisher der Herr das freie Wort verboten hatte, der konnte sich nun unverstellt und öffentlich äußern. [...] selbst auf der Geschworenenbank sitzen, bei Wahlen ihre Stimme abgeben und sich sogar für Ämter zur Wahl stellen.
Ausgerechnet dieser große Aufbruch kippte in das Gegenteil einer scharfen Rassendiskriminierung um. Ende der 1870er Jahre waren die Errungenschaften der Emanzipationszeit weitgehend zunichte gemacht. In den 1880er Jahren verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den Rassen in den früheren Sklavenstaaten des Südens in dramatischer Weise. Nach 1890 waren die Afroamerikaner zwar nicht neuerlich versklavt, aber einer extrem diskriminierenden und einschränkenden Rassenordnung unterworfen, die von weißem Terror und Lynchjustiz begleitet war. Von der Ausübung staatsbürgerlicher Rechte konnte keine Rede mehr sein. Nur drei Mal hat es solche scharfen Rassenordnungen jenseits der Sklaverei gegeben: im Süden der USA zwischen den 1890er und 1920er Jahren, in Südafrika nach 1948 und in Deutschland nach 1933 sowie während des Zweiten Weltkriegs im deutsch besetzten Europa. Lässt man den Fall Deutschlands beiseite, so bleiben als Kandidaten für einen ungefähren Vergleich die USA und Südafrika, denn die Anfänge der südafrikanischen Apartheid reichen weit ins 19.Jahrhundert zurück. [...]
Die Unterschiede zu Südafrika sind so groß, dass sich ein umfassender Vergleich verbietet; punktuell finden sich jedoch aufschlussreiche Querbezüge. Die Entwicklungen in den beiden Ländern, zwischen denen wenige prägende Transfers stattfanden, verliefen nicht synchron. Die Sklavenbefreiung in Südafrika erfolgte fast drei Jahrzehnte vor derjenigen in den Südstaaten der USA. Um 1914 waren da wie dort die Ideologien und Instrumente rassischer Hierarchisierung und Ausgrenzung vorhanden. Südafrika ging dann seit den 1920er Jahren noch einen Schritt über den Süden der USA hinaus, denn Apartheid wurde hier zu einem Grundprinzip nationaler Gesetzgebung. [...]
In dem - neben den Südstaaten - anderen großen Fall von Massensklaverei im 19. Jahrhundert ist die Herausbildung von weißer Vorherrschaft ausgeblieben. Dafür, dass sich in Brasilien die Sklaverei viel länger hielt als überall sonst im kontinentalen Lateinamerika, gibt es mehrere Gründe. Nicht der unwichtigste war, dass die Brasilianer keinen Unabhängigkeitskrieg gegen ihre Kolonialmacht geführt hatten, daher auch, anders als in den Kämpfen ihrer Nachbarn gegen die Spanier, keine schwarzen Soldaten rekrutiert wurden. [...] Warum aber entstand in Brasilien nach 1888 keine formalisierte Rassenordnung? Nach dem Ende der Sklaverei, das mit einem friedlichen Übergang von der Monarchie zur Republik zusammenfiel, begann eine lange Debatte über die nationale und rassische Identität des Landes und seine Chancen der Modernisierung. [...] In den Modernisierungsvorstellungen von Teilen der weißen Elite fanden daher freigelassene Sklaven schon früher einen Platz. Noch wichtiger aber war die Strategie, die Sklaven in den dynamischen Sektoren der Wirtschaft durch neu angeworbene Emigranten aus Europa zu ersetzen. Diese Emigranten und die Ex-Sklaven, die nun in großer Zahl ökonomisch marginalisiert wurden, begegneten sich nicht auf denselben Arbeitsmärkten. Damit entfiel eine Konkurrenzsituation, wie sie überall in der Welt zu einem typischen Nährboden für Rassismus wurde. In Brasilien war die Rassenfrage nie zu einem Streitpunkt territorialer Politik geworden. Keine sezessionsbereiten Sondergebiete definierten sich wie der US-Süden durch rassische Identitäten. Im Gegenteil gab sich die Elite Mühe, einen inklusiven Nationalismus und den Mythos einer besonderen Menschenfreundlichkeit der früheren Sklaverei zu propagieren. [...] die Behörden verstanden sich nicht als Garanten von Rassenschranken. Allein die Schwäche des Staates führte dazu, dass viel rassistische Gewalt ungestraft geschah. Sie war aber nicht unmittelbarer Ausfluss staatlicher Ordnung. (S.1209-1213)

3. Fremdenabwehr und "Rassenkampf"
Um 1900 war das Wort «Rasse» in vielen Sprachen rund um den Globus gebräuchlich. Das weltweite Meinungsklima war von Rassismus durchtränkt. Zumindest im globalen «Westen», der sich im Zeitalter des Imperialismus auf allen Kontinenten fand, bezweifelten wenige die Vorstellung, die Menschheit sei in Rassen unterteilt, diese Rassen besäßen, biologisch bedingt, unterschiedliche Fähigkeiten und als Folge dessen auch ein unterschiedliches Recht, ihre Existenz autonom zu gestalten. [...] Um 1930 war Rassismus weltweit bereits eine Spur weniger akzeptabel geworden, als er es wenige Jahrzehnte zuvor gewesen war. Im «weißen» Westen hatten es selbst wohlhabende und bürgerlich auftretende Afroamerikaner immer noch schwer, ein Hotelzimmer zu finden. Aber «Rasse» wurde zumindest als wissenschaftliches Konzept weniger unkritisch hingenommen. Japans Versuch, auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 eine Klausel gegen rassische Diskriminierung in die Satzung des neu gegründeten Völkerbundes aufnehmen zu lassen, war vor allem am Widerstand der britischen Dominions und der USA gescheitert, doch zeigte diese Initiative immerhin, für wie anfechtbar rassistische Diskurse und Praktiken mittlerweile gehalten wurden. [...] Um 2000 war Rassismus weltweit diskreditiert, seine Propagierung in vielen Ländern unter Strafe gestellt, jeglicher Anspruch auf Wissenschaftlichkeit lächerlich gemacht. Aufstieg und Fall von Rassismus als geschichtsprägender Macht füllen den, weltgeschichtlich gesehen, kurzen Zeitraum zwischen etwa 1860 und 1945. Dieser makabre Zyklus verklammert das 19. mit dem 20. Jahrhundert. [...]

Rassetheorien, prä- und postrevolutionär
Der große Komplex von Rassedenken und rassistisch motiviertem Handeln müsste nun in einem zweiten Schritt geduldig auseinandergelegt werden. Dies kann hier nicht geschehen. Es wären unterschiedliche Spielarten von Rassismus zu unterscheiden, nach den verwendeten Methoden etwa

(1) einen repressiven, Unterklassen erzeugenden;
(2) einen segregierenden, «Ghettos» bildenden;
(3) einen exkludierenden, Nationalstaaten an ihren Grenzen abschottenden;
(4) einen exterminatorischen, den «rassischen Feind» auslöschenden Rassismus. Unterschiedlich waren die Arten und Weisen, mit «Rasse» argumentativ und narrativ umzugehen. Das Bild wäre zudem durch eine ganze Reihe transnationaler Verbindungen zu ergänzen. Ebenso wie in den Jahrzehnten um 1900 «Rasse» die unter Intellektuellen im Westen beliebteste Kategorie war, um die Beziehungen der Staaten und Völker untereinander zu Makro-Bildern zu ordnen, so reagierten nationale und partikulare Rassismen aufeinander und so schlossen sich vor allem solche Rassedenker, die an die «Züchtbarkeit- der Menschen glaubten, zu grenzüberschreitenden Gruppierungen zusammen. [...]" (S.1214-1217)

"Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts kam unter europäischen Intellektuellen das Klassifizieren und Vergleichen als wissenschaftliches Verfahren in Mode. Vorschläge wurden gemacht, die Menschheit in Typen einzuteilen. Die vergleichende Anatomie und die Phrenologie, d.h. die Vermessung von Schädeln zwecks Rückschlüssen auf die Intelligenzleistung ihrer Besitzer, gab diesen Bemühungen einen wissenschaftlichen Anstrich nach den Maßstäben der Zeit. Einige Autoren gingen so weit, in bewusster Abkehr von der christlichen Schöpfungslehre die separate Erschaffung der verschiedenen Rassen (Polygenesis) zu postulieren und damit auch die vom Abolitionismus betonte Grundsympathie zwischen Weißen und Schwarzen in Zweifel zu ziehen. [...] Die Klassifikation von Rassen führte zu einer niemals aufgelösten Konfusion, zumal das angloamerikanische Wort  race auch zur Bezeichnung von Nationen benutzt wurde: "the Spanish race" usw. Im Jahre 1888 variierten allein in der US-amerikanischen Literatur die Zahl der unterschiedlichen races zwischen 2 und 63.[...] Die Naturwissenschaftler hatten das Thema niemals aufgegeben, auch wenn einer der Größten unter ihnen, Alexander von Humboldt, ein kompromissloser Gegner allen Rassedenkens blieb." (S.1218 u. 1220)

"Fast ganz Europa (allerdings nicht Finnland) ließ sich von einer Theorie der eigenen «indogermanischen» oder «arischen» Ursprünge faszinieren, die anfangs mehr mit einer gemeinsamen Wurzel seiner Sprachen als mit biologischen Banden zu tun hatte und deren Erfolg in einer verführerisch einfachen Gegenüberstellung von «arisch» und «semitisch" begründet lag. Diese antinomische Denkfigur, durch Wissenschaft geadelt, wurde später im Jahrhundert von Antisemiten aufgegriffen, die damit die nicht-arischen» Juden aus der europäischen Kulturgemeinschaft ausschließen konnten. Der Ariermythos weckte aber auch Widerspruch. So war man in Großbritannien keineswegs von der Aussicht begeistert, mit den Indern verwandt zu sein, zumal nicht nach dem Großen Aufstand von 1857, in dessen Folge man Indien lieber als so «anders» wie möglich sah." (S.1221)

Dominanter Rassismus und seine Gegner

"Für die Zeit seit den 1850er Jahren kann man von einem dominanten Rassismus sprechen. Er war über die westliche Welt einschließlich ihrer Kolonien sehr ungleichmäßig verteilt, fehlte aber nirgends und war eines der einflussreichsten Weltbildmuster der Epoche. [...] Auf «niedere Rassen» mit bestenfalls wohlmeinender Herablassung hinunterzublicken wurde zur Selbstverständlichkeit. Extreme rassistische Äußerungen, wie sie um 1820 undenkbar gewesen waren und um 1960 Skandale verursacht hätten, konnten ungestraft öffentlich getan werden. Die Produktion rassebasierter Weltanschauungen erreichte einen Höhepunkt bei Richard Wagners Schwiegersohn, dem britischen Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain, dessen Werk Die Grundlagen des 19.Jahrhunderts (1899), das bald nach seinem Erscheinen in ganz Europa gelesen wurde, einen großen Einfluss auf die nationalsozialistische Rassenideologie gewinnen sollte." (S.1221/22)
"Es gab durchaus Beispiele, dass sich einzelne diesem, wie David Brion Davis sagt, «official racism in Western culture» entzogen. In einer dramatischen Intervention aus Anlass des jamaikanischen Morant-BaySkandals von 1865 stellte sich John Stuart Mill der rassistischen Polemik seines Schriftstellerkollegen Thomas Carlyle entgegen. [...]
Und die Soziologie als neu entstehende Wissenschaft stand mit ihren Gründern Emile Durkheim, Max Weber, Georg Simmel und Vilfredo Pareto von Anfang an in Opposition gegen den Zeitgeist, indem sie keine biologischen und genetischen Faktoren in ihren Erklärungen akzeptierte." (S.1222)

Staat, Fremdenpolitik und Rassismus

Ein weiteres Merkmal des dominanten Rassismus seit den 1860er Jahren war seine Verstaatlichung. Ältere Rassismen hatten den Charakter persönlicher Haltungen gehabt. Der dominante Rassismus seit den 1860er Jahren hingegen besaß die immanente Tendenz, sich als Rassenordnung verwirklichen zu wollen. [...]
Neu war im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts, dass Regierungen von Nationalstaaten und, in schwächerer Form, Imperien ihre Aufgabe darin sahen, für die kulturelle Homogenität und ethnische «Reinheit» innerhalb ihrer Grenzen zu sorgen. Dies geschah in unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlicher Intensität. Die Freizügigkeit über Staatsgrenzen hinaus war in Europa während der ersten beiden Drittel des 19.Jahrhunderts hinaus für Angehörige der unteren Schichten deutlich gestiegen. Viel Passzwang verschwand. Gegen Ende des Jahrhunderts kehrte sich dieser Trend um. Pässe und Passkontrollen wurden eingeführt, Papierwände unterschiedlicher Höhe um die Nationalstaaten errichtet. Großbritannien blieb eine liberale Ausnahme. Die Bürger des Vereinigten Königreichs hatten vor dem Weltkrieg keine Personalausweise. Sie konnten ihr Land ohne Pass oder behördliche Genehmigung verlassen und ihr Geld unbehindert in fremde Währungen umtauschen. Umgekehrt wurden Ausländer nicht daran gehindert einzureisen und konnten ihr Leben auf der Insel verbringen, ohne sich bei der Polizei zu melden. [...]
 Die innere Konsolidierung von Nationalstaaten erforderte, dass die Frage der Zugehörigkeit zum nationalen «Staatsvolk» energischer gestellt werden musste. Die Wiedereinführung von Schutzzöllen auf dem Kontinent in den späten 1870er Jahren zeigte, wie Regierungen auf einem anderen Gebiet Ströme über ihre Staatsgrenzen hinweg zu regulieren vermochten. Bei Menschen stellte sich die Frage, wer als «unerwünscht» ausgeschlossen und wer auf welchem Platz in einer Skala der Einbürgerungswürdigkeit platziert werden sollte. " (S.1223/24)

Weder in Frankreich noch in Deutschland entstanden vor 1914 Rassestaaten.
"Nicht in Europa, sondern in den Abwehrrassismus demokratischen Einwanderergesellschaften Nordamerikas und Ozeaniens wurde ein Abwehrrassismus politisch mehrheitsfähig. Er richtete sich vornehmlich gegen Asiaten." (S.1224)
"Vor allem in Kalifornien kam es zu pogromartigen Übergriffen mit Toten und Verletzten. 1882 setzten sich die Anhänger eines Immigrationsverbots auf Bundesebene schließlich durch. Der Kongress beschloss einen Chinese Exclusion Act, der die Einwanderung von Chinesen für zunächst zehn Jahre so gut wie unterband. (S.1225)
Vergleichbare Entwicklungen vollzogen sich in Australien und auf dem amerikanischen Kontinent sowie in Südafrika..
"Die offizielle Unterstützung einer White Australia-Politik war aber noch größer als vergleichbare Tendenzen in den USA. Ungefähr ein volles Jahrhundert lang, von den 1860er bis zu den 1960er Jahren, verfolgten die australischen Kolonien und später die Föderation eine Politik der Verhinderung einer Masseneinwanderung von Nicht-Weißen. [...] ab 1901 wurde die Zuwanderung extrem erschwert. 1910 ging Kanada zu einer White Canada-Politik über. Paraguay hatte schon 1903 ein scharfes Einwanderungsgesetz erlassen und die Kolonie Natal in Südafrika 1897 den Zuzug von Indern zu unterbinden versucht, in diesem Fall zugunsten der afrikanischen Bevölkerung." (S.1225)
"Damals wurde zum ersten Mal ein Widerspruch im US-amerikanischen Selbstbewusstsein deutlich, der heute noch erkennbar ist: Die Vereinigten Staaten, die sich dank ihrer allumfassenden Überlegenheit als Retter der Völker der Welt sehen, werden gleichzeitig von der Furcht beherrscht, durch eben diese Völker infiziert und ruiniert zu werden." (S.1226)
Nicht-westlicher Rassismus: China: "Dem Land war 1860 die Freizügigkeit für Ausländer aufgezwungen worden. Es gab daher in China zwar reichlich Anlass für Vorbehalte gegen Ausländer, aber keine Grundlagen für einen abwehrenden Rassismus." (S.1226) "Das kaiserliche China kannte "Barbaren"-Stereotype aller Art und registrierte auch körperliche Besonderheiten der verschiedensten Fremdvölker, denen man an den Grenzen des Reiches begegnete. Doch wurde der Barbar durchweg als ein ohne eigenes Verschulden kulturell defizientes Wesen betrachtet, als Kandidat für wohlwollende Zivilisierung. Der Weg von kultureller zu biologischer Fremdheit war im Denken des traditionalen Chinas versperrt. [...] Dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts westliche Rasselehren in China bekannt wurden, war eine Voraussetzung für die Entstehung eines chinesischen Rassismus, die andere war die endgültige Zerstörung eines sinozentrischen Weltbildes durch die als katastrophal empfundene militärische Niederlage gegen Japan 1895." (S.1227)
"Grenzenlos mobil wurden Rassediskurse erst, als sie im universalistischen Idiom der (Natur-)Wissenschaft formuliert wurden und damit die Aura objektiver Unanfechtbarkeit annahmen. Solche Mobilität wiederum setzte das einzigartige Meinungsklima der Jahrhundertwende voraus, als sogar schwarze amerikanische Bürgerrechtler und (Proto-)Panafrikanisten wie selbstverständlich in Kategorien "rassischer" Verschiedenheit dachten und ihre politischen Projekte auf die angenommene Einheitlichkeit einer, wie es damals hieß, "negro race" stützten. (S.1228)

4. Antisemitismus
"Vor allem in Deutschland und Frankreich wurde die Emanzipation der Juden als ein staatlich gelenkter Prozess ihrer «Zivilisierung» und Integration gesehen. Durch ein solches Zusammenwirken innerer und äußerer Antriebe wurde ein wachsender Teil der Bevölkerung jüdischen Glaubens in den Stand gesetzt, von den neuen wirtschaftlichen Chancen in einem sich modernisierenden Europa zu profitieren." (S.1229)
"Nie zuvor hatten sich Juden in Westeuropa so sicher fühlen können wie in den mittleren Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts. Sie standen jetzt nicht, wie frühneuzeitliche «Hofjuden», unter dem persönlichen Schutz launischer Fürsten, sondern unter dem Schutz des Rechts." (S.1230)
Aufstieg des Antisemitismus
 Antisemitische Agitation gab es in Ungarn, Österreich und in Russland.  "Gewalttätiger als anderswo äußerte sie sich im Zarenreich, in dessen polnischem Teil die Mehrzahl der europäischen Juden lebten. Hier war eine besonders widersprüchliche Situation entstanden. Einerseits war eine große Zahl der osteuropäischen Juden von der innerjüdischen Reformbewegung nicht berührt worden [...] Andererseits gab es im Zarenreich wenige sehr erfolgreiche, dem Klischee vom "Plutokraten" entsprechende jüdische Unternehmer, und in der Führung der nun entstehenden revolutionären Gruppierungen spielten Juden eine herausgehobene Rolle. Dies machte den Osten zu einem Nährboden eines rabiaten, eher sozial und anti-modernistisch als biologisch-rassistisch begründeten Antisemitismus." (S.1231) "Am Ende des 19.Jahrhunderts war der Westen des Zarenreiches für Juden die gefährlichste Gegend der Welt." (S.1232)
Sonderfall kontinentales Europa
"Bis zum Ersten Weltkrieg genossen die Juden den Schutz des osmanischen Staates, der sie seinerseits als seine Stützen betrachten konnte. Gefährlich für sie war ein christlicher Antisemitismus, der sich fast immer bemerkbar machte, sobald im 19.Jahrhundert die osmanische Herrschaft zurückgedrängt wurde: in Serbien, Griechenland, Bulgarien oder Rumänien. Anti-jüdische und anti-rnuslimische Gewalt steigerte sich hier in enger Parallelität. Die Juden in den neuen Balkanstaaten waren Verfolgungen durch ihre christlichen Nachbarn, durch Behörden und Kirchen ausgesetzt; vor allem die Griechisch-orthodoxe Kirche tat sich dabei hervor. Juden waren vielfach in die Finanz- und Fernhandelsnetze der osmanischen Ökumene eingebunden. Wenn Gebiete aus solchen Verflechtungen ausschieden und sich als insulare Bauernstaaten neu konstituierten, war die wirtschaftliche Existenz dieser Teile der jüdischen Bevölkerung bedroht. [...]
Auf dem Berliner Kongress diktierten 1878 die Großmächte den Balkanstaaten Schutzklauseln zugunsten nicht-christlicher Minderheiten. Da keine Großmacht bereit war, Juden in ferneren Ländern tatkräftig zu verteidigen, war dies nicht mehr als eine Drohung auf dem Papier, aber immerhin die Erfindung des neuen völkerrechtlichen Instruments des Minderheitenschutzes, das die Möglichkeit denkbar machte, nationale Souveränität im Namen der Menschenrechte einzuschränken." (S.1233)
" In Japan, wo man auch die Torheiten Europas kopierte, findet sich ein imitatorischer Antisemitismus ohne physisch präsente Juden. Die 1924 übersetzten Protokolle der Weisen von Zion bekräftigten vorhandene Verschwörungsängste und nährten einen xenophoben Nationalismus, den kleine Kreise in Japan seit längerem gepflegt hatten. Hier erschienen die Juden als Komplizen eines Westens, der angeblich Japan sein Lebensrecht bestritt. In China war die Reaktion umgekehrt. Dort machte erst die Übersetzung von Shakespeares Merchant of Venice im Jahre 1904 einen europäischen Typus des
Juden weithin bekannt, allerdings mit Sympathie als leidendes Opfer betrachtet und zur weltweiten Solidarität unter den Unterdrückten einladend." (S.1234/35)
Antisemitismus und Rasseordnungen
"Vor dem Ersten Weltkrieg argumentierte der Antisemitismus nicht überwiegend rassistisch. [...] Der Antisemitismus in Europa westlich von Polen war ebenso wie die Aggression gegen Afroamerikaner im Süden der USA nach dem Bürgerkrieg eine post-emanzipatorische Erscheinung. Er fügt sich in den Zusammenhang verschärfter Grenzziehungen zwischen «Zugehörigen» und «Fremden», nationalen Mehrheiten und wandernden oder kosmopolitischen Minderheiten. [...Rassisten suchten daher die Abgrenzung, nicht die Beseitigung der Fremden...]  Vor dem deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa nach 1941 hat es in der Geschichte von Imperialismus und Kolonialismus keine Fälle gegeben, in denen Herrschaft über andere Völker zum Zwecke ihrer rassistisch motivierten Bedrängung oder gar Ermordung angestrebt wurde. Kolonialismus hat immer seinem eigenen Programm nach irgendeine konstruktive Note gehabt. Zivilisierungsmission, nicht aber Rassismus ist im 19.Jahrhundert ein starker Motor für koloniale Expansion gewesen." (S.1236)
"Es führte kein direkter Weg vom Antisemitismus vor 1914 zur Judenpolitik des Nationalsozialismus nach 1933." (S.1238)

Zum Versuch der Identifikation von Rassen:
"The reality is that most races were identified on cultural or linguistic grounds, or simply on account of educated intuition, not biology." (Human races: biological reality or cultural  delusion? 14.8.2014)

Sonntag, 28. April 2019

Lindner zu Guerilla-Lernen

Lindner meint, dass das Lernen in Institutionen und in vorgegebenen Lernschritten in der jetzigen sich rapide ändernden Welt unangemessen sei.
Folglich nennt er das jetzt notwendige neue Lernen im Netz in Analogie zum Guerillakrieg mit ständig wechselnden Kampfsituationen "Guerilla-Lernen".
Die dafür notwendigen Fähigkeiten entwickelt er anhand der Arbeiten von Rheingold über "Digital Literacy" (dafür erfindet Lindner das neue deutsche Wort: Literanz)
Rheingold unterscheidet fünf Schlüsselkompetenzen: "Man muss die eigene Aufmerksamkeit und Konzentration managen. Man muss Bullshit schnell erkennen können. Man muss sich aktiv beteiligen können an den Web-Kommunikationen und Web-Wissensprozessen. Man muss lernen, im Web mit anderen zusammenzuarbeiten. Und schließlich muss man verstehen, wie die Vernetzung auch im Offline-Leben die gewohnten Verhältnisse verändert – sozial, geistig-kulturell und wirtschaftlich. [...]

Am nützlichsten für Guerilla -LernerInnen sind vielleicht seine Bemerkungen zur Aufmerksamkeit. Rheingold leitet dazu an, ruhig und konzentriert mit dem Internet umzugehen – achtsam, nicht hastig und getrieben. In seinem Kursplan sind auch Links zu einfachen Meditationsübungen. [...]"
Man muss fähig sein, seine Aufmerksamkeit zu teilen: "So ist das auch im Netz; es gibt keinen Tunnelblick, und es geschehen immer viele Dinge gleichzeitig. Um nicht von den Ablenkungen hin- und hergeworfen zu werden, muss man also quasi einen zerstreuten, halbaufmerksamen Blick aus den Augenwinkeln trainieren, mit dem man immer vieles gleichzeitig erfasst. [...] Man muss lernen, an den richtigen Stellen quasi hinein- und wieder hinauszuzoomen. Dazu gehört auch, zwischen mehreren Apps oder auch zwischen mehreren digitalen Bildschirmen und Geräten zu wechseln."

Weiterhin empfiehlt Lindner: David Allen: Getting Things done. The Art of Stress-Free Productivity (2001; deutsch: Wie ich die Dinge geregelt kriege. Selbstmanagement für den Alltag): 
"Allen leitet dazu an, auch kleinere Aktivitäten als persönliche Projekte zu betrachten. Als Projekt bezeichnet Allan alles, was sich nicht auf einen Blick übersehen lässt, weil es über länger als zwei Tage erstreckt oder in mehr als drei Schritten abgearbeitet werden muss. Alles, was an Anforderungen täglich herein kommt, wird in kleine Next Actionable Steps zerlegt: Das sind Aktionen, die man jetzt und sofort in einem Zug erledigen kann. Also etwa ein Einkauf, ein Telefonanruf, eine E-Mail, eine Google-Recherche, um eine ganz konkrete Frage zu klären, und so weiter. [...]
Ein alternatives Konzept von digitaler Literanz hat Doug Belshaw für Mozilla Education entwickelt. [...] Belshaw hat acht Zutaten der Digital Literacy destilliert, aus denen man die eigene Diät zusammenstellen soll. [...] Hier sind die im Überblick: Kritisch Denken entspricht ungefähr dem, was Rheingold "Bullshit-Erkennung" nennt. Hier geht es darum, Machtverhältnisse zu erkennen, mit Fragen wie: Für wen ist dieses digitale Angebote hier gedacht? Worin besteht der Nutzen für die Anbieter? Wer ist hier ausgeschlossen, und wer wird hier privilegiert? Welche unterschwelligen Annahmen werden hier transportiert? Wo liegen die Gefahren? Das hat alles sehr viel mit Text-Kompetenz zu tun sagt Belshaw.
Kreativ ist hier konkreter gefasst als der geläufige Wischiwaschi-Begriff: Es geht nicht einfach darum, sich auszudrücken, sondern darum, neue Dinge auf neue Art zu tun, um etwas zu erzeugen, was für jemand praktischen Wert hat. Das heißt, man muss vorher geeignete Probleme überhaupt erst finden, die man dann in einem eigenen kreativen Projekt bearbeiten kann. [...] Immer geht es um das Machen, um das Herstellen von Objekten.
Damit hängt für Belshaw Kommunikation und Kollaboration direkt zusammen. Unter Communicative versteht er, dass man sich gemeinsam auf ein konkretes Objekt bezieht, das man gestaltet. [...] Das kann auch durch einen Blogpost geschehen, der etwas auf den Begriff bringen, das man vorher selbst nicht verstanden hat. Darüber tauscht man sich dann auch im Netz aus. Das Objekt wird so zum "sozialen Objekt“. Auch Grafiken oder Fotos sind gute Beispiele dafür. Visuelle Kommunikation ist im Netz eine wichtige Fähigkeit. Das muss und soll gar nicht große Kunst sein. Auch ein erhellendes Foto, das man irgendwo findet und mit einer witzigen Unterschrift* versieht, [...] ist bereits ein soziales Objekt. [...]
[*Ob Belshaw so etwas oder auch so etwas unter "erhellend" versteht? Und dies oder eher das?]
Construktive bedeutet bei Belshaw, digitale Texte und Medieninhalte konstruieren und rekonstruieren zu können. Auch Empfänger von fremden Inhalten haben im Netz eine viel aktivere Rolle als früher. Der erste Schritt ist immer das Kopieren. Copy and Paste ist die allererste digitale Technik, die man lernen muss. Wenn man etwas interessant oder anregend findet, schneidet man es aus und sammelt es. Dann kann man das Material in eigene Zusammenhänge bringen, verformen und verändern. Digitales Konstruieren ist dabei viel leichter und risikoloser als im nicht-digitalen Raum, weil man jeden Schritt mit einem Klick rückgängig machen kann.
Cognitive meint Denkwerkzeuge und Denkgewohnheiten. Das erste kognitive Werkzeug ist das jeweilige Netz-Gerät selbst, das Smartphone oder der PC. Dazu kommen eine Vielzahl von Tools und Apps, die alle bestimmte Arten zu denken begünstigen, von der Mind Map bis zum Tagging. Zu Cognitive gehört es für Belshaw, diese Werkzeuge auszuprobieren, mit ihnen herumzuspielen, die für sich geeignetsten auszuwählen und andere zu verwerfen. Aber auch Rheingolds Achtsamkeitstechniken sind in diesem Sinne kognitiv.
Cultures heißt kulturelles Wissen und kulturelle Geläufigkeit. Die Mehrzahl ist wichtig. Man erwirbt diesen Teil von Literanz am besten, wenn man in viele digitale Umwelten für jeweils einige Zeit eintaucht. Belshaw meint hier so etwas Ähnliches wie die Minerva-Hochschule, die ihre Studierenden jedes Semester in eine andere Metropole schickt. Im Prinzip kann das jede/r im Netz selbst machen. Man erkennt den eigenen Fortschritt, sagt Belshaw, wenn man immer schneller und bruchloser zwischen verschiedenen Digitalkulturen wechseln kann.
Confident steht für Selbstsicherheit, elastische Widerstandsfähigkeit und Beharrungsvermögen. Am Anfang sind alle Leute sehr unsicher, die es in digitale Umwelten verschlägt. Man weiß nicht, welcher Klick was bewirkt und welche Tastenkombination eine Abkürzung ist, die viel Zeit und Nerven spart. Mit komplexeren Kenntnissen ist es ähnlich. Man lernt es, sag Belshaw, in dem man Probleme löst und sein Lernen als eigenes, selbstgesteuertes Projekt versteht. Da braucht man mehr als nur die Tricks aus Getting Things done. Vor allem hilft das Feedback von Peers und Mentoren. Man braucht persönliche Lern-Netzwerke und im Idealfall auch eine Community, eine Online-Gemeinschaft von Gleichgesetzten, in der man sich anfeuert und hilft.
Der achte und letzte Bereich, aus dem sich Belshaws digitale Literanz speist, ist Civic. Das meint "zivil" im Sinne von "Zivilgesellschaft": das Feld außerhalb der festgefügten Institutionen, wo sich Leute mit gemeinsamen Interessen treffen, austauschen und zusammenschließen. Draußen in der analogen Welt kann das ein Café sein, ein Co-WorkingSpace, ein selbst organisiertes Barcamp oder ein FabLab für Digitalbastler. Aber es könnte auch eine Volkshochschulgruppe sein, in der man kunstvolle Decken bestickt und dann auf dem Flohmarkt oder auf der Kunsthandwerk-Netzplattform etsy anbietet. [...] digitale Zivilgesellschaft, die sich der Diktatur widersetzt. Aber natürlich gehören zu civic alle Arten von Web-Inhalten und Lebenszeichen.* [...]
Was könnte es den durchschnittlichen Guerilla-LernerInnen nützen, mit Code und Software Entwicklung grundsätzlich vertraut zu sein? Darauf gibt es drei Antworten: Informatisch denken lernen, Web Literacy und die Fähigkeit zur digitalen Kollaboration.

Informatisch denken lernen ist nicht dasselbe wie "Informatik-Wissen" erwerben. Es geht darum, die innere Logik von Software-gesteuerten Prozessen besser verstehen zu lernen. Das sei auch für die Allgemeinbildung von Bedeutung, sagt Beat Döbeli Honegger, der selbst Informatiker und Professor an einer pädagogischen Hochschule ist. Letztlich geht es um Systemdenken, "das modellierende, vernetzte Denken, um Systeme der Wirklichkeit zu beschreiben zu simulieren und zu verstehen". Ich stimme dem zu, konzentriere mich im folgenden aber auf die Schnittmenge mit Web Literacy. [...]
Im schulischen Informatikunterricht programmieren die SchülerInnen üblicherweise entweder kleine Roboter oder Sensorenschaltungen (das soll auf industrielle Ingenieurstätigkeit vorbereiten) oder es werden Grundkenntnisse in Office-Programmen vermittelt (das soll auf Bürotätigkeiten vorbereiten). Das Web kommt in der Regel zu kurz, dabei ist gerade hier die wichtigste Schnittstelle zwischen Kulturwelt und Datenwelt. Alle 'weichen' digitalen Literanzen haben irgendwie mit dem Web zu tun. Für die Nonprofit-Firma Mozilla, die unter anderem den Open Source-Browser Firefox entwickelt, hat ein Team, zu dem auch nach Belshow gehörte, ein sehr sinnvolles Curriculum für code-bezogene Webkompetenzen ausgearbeitet.
Auf eine interaktiven Webseite sieht man dort alles auf einen Blick und kann auf einzelne Kompetenzen klicken. Dann findet man nicht nur einfache Erklärungen, sondern bekommt kleine Werkzeuge zur Verfügung gestellt, um diese Kompetenzen im kleinen praktischen Projekten spielerisch zu entwickeln. Diese Mozilla-Seite ist vorbildlich. Man könnte sie ohne großen Aufwand ins Deutsche übertragen. Eigentlich sollte das in allen Schulen benutzt werden, aber anscheinend macht das kaum jemand. Es ist kaum zu verstehen, warum nicht Mozilla und auch Wikimedia nicht privilegierte Partner der Schulen sind, wenn es um Iinformatorische Bildung geht. Aber in den unzähligen deutschen MINT-Programmen spielen das Web und die Web Literacy bislang kaum eine Rolle. [...]

Damit ist die dritte wichtige
Web Literacy-Komponente angesprochen, die im weiteren Sinn mit dem Coden und der Informatik zusammenhängt. Es geht darum, eigene Fähigkeiten zu entwickeln, die in gemischten Teams brauchbar und anschlussfähig sind. Auch hier werden viele Fähigkeiten gebraucht, die kaum mit einem tieferen Verständnis von Code und Informatik zu tun haben – organisieren, präsentieren, recherchieren, kommunizieren, texten, kreativ gestalten, Zahlen erheben und auswerten, und so weiter.

Viele Leute kommen in einer hochdigitalisierten Umgebung glänzend zurecht, ohne selbst je ein Stück Quellcode gesehen zu haben. Dazu gehören nämlich die ganzen Abläufe in einer vernetzten Welt, die indirekt durch die Digitalisierung betroffen sind. Informationen werden so umgeformt, Prozesse so definiert und Ziele so gesetzt, dass sie dann von Programmen und Programmierern sinnvoll bearbeitet werden können. Es geht darum, die eigenen Fähigkeiten in die Zusammenarbeit einzubringen und so anschlussfähig zu machen, dass das Team Projekte für eine digitalisierte Welt entwickeln kann. [...]
Design Thinking ist im Kern eine gute Idee, die abgeleitet wurde aus der Arbeit der Leute, die Web-Anwendungen entwerfen und gestalten, bevor man sich mit der konkreten Programmierung beschäftigt. Daraus entstand im Silicon Valley ein Methoden-Baukasten, der dann vom SAP-nahen Hasso Plattner-Institut in Potsdam auch nach Deutschland importiert wurde. Oft ist Design Thinking allerdings nicht viel mehr als ein mehr oder minder anregendes Kreativitäts-Larifari für Wochenend-Workshops. Wenn es aber ernsthaft betrieben wird, ist es eine eigene Disziplin, in der es darum geht, in konzentrierter und zeitraubender Teamarbeit komplexe Problemlösungen zu finden.


Eigentlich geht es darum, dem verengten Blickwinkel der IT-Ingenieure wie auch dem Wunschdenken der Marketingleute zu entkommen. Gute Design Thinking-Methoden zielen auf eine Haltung, die pragmatisch und empathisch zugleich ist. Sie rücken die Perspektive der real existierenden Menschen und ihren unübersichtlichen, und ordentlichen Alltag in den Blick [...]. So verstanden ist Design Thinking eng verwandt mit den emanzipatorischen Idealen des Guerilla-Lernens.
So verstandene Design-Kompetenzen sind tatsächlich für fast alle nützlich, die sich in der digitalisierten Welt durchschlagen. Das ist sozusagen die Hintertür, durch die die verdrängten sozial- und kulturwissenschaftlichen Methoden in die verarmte MINT-Welt wieder einsickern. MINT ist in aller Munde, für die Zahlenmenschen ist überall gesorgt, aber welches griffige Etikett halt die andere Hälfte, die wir in der digitalen Gesellschaft und Wirtschaft mindestens genauso brauchen? 
[...] für den Anfang stelle ich ZONS zur Diskussion: Zeichen, Organisation, Netzwerk, System.
Z steht für die Disziplinen, die sich nicht wie Mathematik mit Zahlen und Formeln befassen, sondern mit Zeichen und Texten. So wie es mathematische Kompetenzen gibt, gibt es auch Zeichenkompetenzen – es geht dann darum, Texte zu verstehen, zu analysieren, zu verformen und in neuen Formen zusammenzustellen. Das geht weit über das hinaus, was die akademische Semiotik abdeckt. (Semiotik ist die Wissenschaft von den Zeichen.) Solche Zeichenkompetenzen kann man grundsätzlich in allen Kultur- und sprachwissenschaftlichen Fächern erwerben und einüben. Bisher geschieht das nur am Rand, aber gerade jetzt beginnen sich mit den sogenannten Digital Humanities Disziplinen zu entwickeln, die Schriftsprache als Teil des neuen digitalen Informationsraums behandeln.


Als Leser fühle ich mich von Belshaw angesprochen, wenn ich hier Martin Lindner (mit seiner Zustimmung) ausführlich zitiere oder wenn ich immer wieder auch kleine Gesprächsergebnisse mit meinen Netzbekannten auf Wikiversity festhalte. Und überhaupt bei diesem gesamten Blog, der zu großen Teilen auf copy & paste + Links mit Kurzkommentaren beruht.

zum Kontext:
https://fontanefanopco11.blogspot.com/2019/04/martin-lindner-die-bildung-und-das-netz.html

Donnerstag, 25. April 2019

Martin Lindner über lernende Organisationen

Martin Lindner hat den Entwurf seines Buches "Die Bildung und das Netz" bereits in der Wikiversity vorgestellt. Hier folgen Auszüge aus dem 30. Kapitel, die ich bei der Lektüre angefertigt und mit einigen Links versehen habe.

"Lernen wird erst dann zum besonderen Problem, wenn Probleme auftreten. Das war den in den 1990er Jahren der Fall. [...] 1996 rief die EU das europäische Jahr für lebenslanges Lernen aus. Die OECD veröffentlichte das Konzeptpapier Livelong Learning for All, das erstmals direkt an die Einzelnen appellierte.
Seitdem wird jede/r für das eigene Lernen selbst verantwortlich gemacht. [...]
In diesen Jahren benannte man die alte bürokratische Personalabteilung um, die im wesentlichen die Mitarbeiterakten verwaltet hatte. Sie heißt seither Personalentwicklung, weil sie das wertvolle Humankapital , die Ressource Mensch, bewahren und vermehren soll. Man sprach auch viel von Firmenkulturen. Das war schon irgendwie ernst gemeint, wirkte aber trotzdem doppelzüngig, weil ja genau zu dieser Zeit die Organisationen auf schlanke Effizienz und Shareholder Value getrimmt wurden. In der Praxis war es eine Hauptaufgabe der Personalentwickler, Leute auf möglichst humane Art zu entlassen  -"freizusetzen", wie man das nannte. Sie kamen dann in Übergangsorganisationen, wo sich Leute über 45 für einen  Arbeitsmarkt weiterbilden sollen, der an den Älteren trotz aller Fachkräftemangel-Jammereien kein Interesse hatte und hat. [...]

Corporate University [...]
"Selbst in Hightech-Unternehmen ist menschliches Lernen und Wissen am Ende messy – unordentlich, vermischt, kontextabhängig und in komplexe Kommunikationsprozesse eingebunden. Man muss sich das wie eine Art Ökosystem vorstellen, nicht als Apparat – Intelligenz plus Learning Analytics."

Das Wiki-Unternehmen Synaxon

"Unternehmensinformationen wurden mit Media Wiki, der Wikipedia Software ins Netz gestellt. Das Intranet wurde zum Extranet, dass von Welt Netz nur durch eine Passwortschranke getrennt ist. Alle anderen Systeme wurden abgeschaltet. Seitdem kann jeder/r alles ändern, auch sensible Geschäftsprozesse und Entscheidungen mit Folgen für das Budget. Roebers berichtet gern vom Fall einer Werkstudentin, die durch einen eigenmächtig veränderten Einkaufsprozess dem Unternehmen eine sechsstellige Summe einsparte, als Ihr Vorgesetzter im Urlaub war. Die Geschäftsführung beobachtet laufende Änderungen an besonders kritischen Stellen. Im Extremfall hat sie ein Vetorecht, aber dieses Veto wurde noch nie gebraucht
Synaxon ist zu einem Unternehmen geworden, das sich weitgehend selbst organisiert. Man ist so schneller, effizienter und flexibler geworden.[...]
Diese Idee von Führung besteht darin, herkömmliche Führung abzuschaffen.
In der Folge hat dass Wiki-Unternehmen Synaxon noch weitere kollaborative Netz-Software eingeführt, um die Kollaboration und den Informationsfluss weiter zu verbessern. Es gibt Instant Messaging (direkte Chat-Verbindungen), Yammer (eine Art Twitter für Unternehmen, dass auch E-Mails ersetzen soll) und ein Firmen-Blog. Der Erfolg gibt Roeber Recht: der Mitarbeiterstamm ist seit der Wiki-Wende ungefähr konstant geblieben, aber man erledigt ein Viertel mehr an Aufgaben – ohne dabei mehr zu arbeiten.
Die radikale Wiki-Strategie von Synaxon ist eine Ausnahme geblieben. [...]


Der lange Weg zum Selbstlernen [...]
Die real existierende Software, die größere Unternehmen für Weiterbildung und Talentmanagement einsetzen, ist sehr weit davon entfernt, ein umfassendes und selbstbestimmtes Lernen der MitarbeiterrInnen zu unterstützen.
Mittelfristig wird sich das Problem wohl dadurch erübrigen, dass sich wie bei Synaxon die gesonderten Abteilungen für Weiterbildung und Personalentwicklung allmählich auflösen. Kurze, intensive Drillphasen, in denen es um ganz kurzfristig benötigte Skills geht, wird es weiterhin geben, online oder offline, aber darüber hinaus wird Lernen und Arbeiten ineinander verschwimmen. Dann wird nicht mehr neue Software für das Lernen eingeführt, sondern der ganze Arbeitsplatz zum Web-Arbeitsplatz umgestaltet. 

Mittwoch, 24. April 2019

Ein Ost-West-Dialog in Briefen

Ein Ost-West-Dialog über nunmehr 23 Jahre
Er ist von konträren Sichtweisen auf die beiden deutschen Staaten sowie der äußerst unterschiedlichen Beurteilung der gesellschaftlichen Entwicklung seit 1989/1990 geprägt.

Die Bürger der Europäischen Union - Umfragen und Zahlen

http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/europa/70644/die-buerger-der-europaeischen-union?pk_campaign=nl2019-04-24&pk_kwd=70644

Zizek - Peterson: Glück, Kapitalismus, Marxismus

https://www.youtube.com/watch?v=78BFFq_8XvM

2:10

Peterson has risen to fame on the basis of his refusal to pay the usual fealtiesto political correctness. The size and scope of his fame registers more or less exactly the loathing for identity politics in the general populace, because it certainly isn’t on the quality of his books that his reputation resides. Žižek is also defined, and has been for years, by his contempt for postmodern theory and, by extension, the more academic dimensions of political correctness. [...]
[Peterson] He wandered between the Paleolithic period and small business management, appearing to know as little about the former as the latter. Watching him, I was amazed that anyone had ever taken him seriously enough to hate him.
He said things like “Marx thought the proletariat was good and the bourgeoisie was evil”. At one point, he made a claim that human hierarchies are not determined by power because that would be too unstable a system, and a few in the crowd tittered. That snapped him back into his skill set: self-defense. “The people who laugh might do it that way,” he replied. By the end of his half-hour he had not mentioned the word happiness once. [...]
“The mere dumb presence of the celebrities on the stage mattered vastly more than anything they said, naturally. But there was one truly fascinating moment in the evening. It came right at the end of Žižek’s opening 30-minute remarks.
We will probably slide towards apocalypse,” he said. And Peterson agreed with him: “It is not obvious to me that we can solve the problems that confront us.” They are both self-described “radical pessimists”, about people and the world. It made me wonder about the rage consuming all public discussion at the moment: are we screaming at each other because we disagree or because we do agree and we can’t imagine a solution?
Both of these men know that they are explicitly throwbacks. They do not have an answer to the real problems that face us: the environment and the rise of China as a successful capitalist state without democracy. (China’s success makes a joke out of the whole premise of the debate: the old-fashioned distinction between communism and capitalism.) [...] China’s success makes a joke out of the whole premise of the debate: the old-fashioned distinction between communism and capitalism. [...]
They returned to their natural subject: who is the enemy? Žižek asked what Peterson meant by cultural Marxists when postmodern thinkers, like Foucault, weren’t Marxist at all. Peterson was an expert on this subject, at least. He gave a minor history of the French critical theorists who transposed categories of class oppression for group oppression in the 1960s.
And they both agreed, could not have agreed more, that it was all the fault of the “academic left”. They seemed to believe that the “academic left”, whoever that might be, was some all-powerful cultural force rather than the impotent shrinking collection of irrelevances it is. If the academic left is all-powerful, they get to indulge in their victimization.
And that was the great irony of the debate: what it comes down to is that they believe they are the victims of a culture of victimization. They play the victim as much as their enemies. It’s all anyone can do at this point. [...]"
Guardian: https://www.theguardian.com/world/2019/apr/20/jordan-peterson-slavoj-zizek-happiness-capitalism-marxism?CMP=Share_AndroidApp_Tweet

Sonntag, 21. April 2019

Soziologische Hindernisse für objektive Darstellung in der Wikipedia und andere Probleme

"König sieht die Wikipedia in einem „partizipativen Dilemma“: Einerseits sei sie abhängig vom aktiven Partizipationswillen von möglichst vielen Laien, andererseits führe deren massenhafte Partizipation dazu, dass als Kriterium für die Aufnahme von Inhalten „wieder nur die etablierten Wissenshierarchien“ genutzt würden, wodurch das Potenzial der Wikipedia begrenzt werde.[119]" (René König: „Google WTC 7“ – Zur ambivalenten Position von marginalisiertem Wissen im Internet. In: Andreas Anton, Michael Schetsche, Michael Walter (Hrsg.): Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens. Springer VS, Wiesbaden 2014, S. 214 ff. - Wikipedia#Machtprozesse)


Mehrsprachigkeit und internationale Zusammenarbeit

"Die Sprachversionen von Wikipedia sind weitgehend voneinander unabhängig. Jede Sprachversion hat ihre eigene Community, die über die erwünschten und unerwünschten Inhalte und über ihre eigenen Richtlinien entscheidet (etwa Relevanzkriterien oder Löschregeln). Eine Untersuchung eines britischen Forscherteams zeigte, dass der kulturelle Hintergrund einen erheblichen Einfluss auf das Editierverhalten der Autoren hat. So wird in der deutschsprachigen Wikipedia deutlich öfter Text gelöscht als in der niederländisch-, französisch- oder japanischsprachigen.[147]"
Datenschutz
"Die aktuelle Wikipedia-Datenschutzrichtlinie[154] wurde vom Kuratorium (Board of Trustees) der Wikimedia Foundation beschlossen und trat am 6. Juni 2014 in Kraft. Demnach müssen Daten wie der richtige Namen, die Adresse oder das Geburtsdatum nicht angegeben werden, um ein Standard-Konto einzurichten oder Inhalte zu den Wikimedia-Seiten beizutragen. Jeder Nutzer hat ein Recht auf Anonymität.[157] Benutzer, die der Benutzergruppe Oversighter[158] (englisch „Aufsicht“) angehören, können Versionen aus einer Versionsgeschichte oder dem Logbuch so verbergen, dass sie auch von Administratoren nicht mehr einsehbar sind, wenn jemand die Identität eines Nutzers gegen dessen Willen offenbart."

"2017 wurde ein starker Einfluss von Wikipedia-Artikeln auf wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen. Für die Untersuchung wurden gleiche Formulierungen in Wikipedia-Artikeln und neuen wissenschaftlichen Veröffentlichungen untersucht und mit unveröffentlichten Wikipedia-Artikeln als randomisierte Kontrolle verglichen. Etwa jedes dreihundertste Wort wurde dabei von Wissenschaftlern aus Wikipedia übernommen. Aus der Untersuchung ergibt sich ein Bild von Wikipedia als Archiv wissenschaftlichen Wissens, das dieses effektiv und kostengünstig verbreitet. Dabei wird Wikipedia insbesondere von Wissenschaftlern aus Schwellenländern verwendet, die nur eingeschränkten Zugang zur oft teuren wissenschaftlichen Fachliteratur besitzen."[165]
(Wikipedia)

Kuriosa:
"Es gibt eine cebuanosprachige Wikipedia mit über 5,3 Millionen Artikeln (Stand: 7. August 2018)." (https://de.wikipedia.org/wiki/Cebuano) Die Masse der Artikel dieser Wikipedia ist von dem  Lsjbot ["Lsjbot ist ein von Lars Sverker Johansson (Akronym Lsj) betriebener Bot, der aus digitalen Informationsquellen und Datenbanken[1] kurze Wikipedia-Artikel („Stubs“) in schwedischer Sprache sowie in Cebuano und Wáray-Wáray, zwei auf den Philippinen gesprochenen Sprachen, generierte.[2][3]" - Lsjboterstellt worden.

Samstag, 20. April 2019

Fehlerhafte Materialien und Maschinen in der Medizin

"[...] Vor 35 Jahren wurde der Robodoc, ein umgebauter Fließbandcomputer aus der amerikanischen Autoindustrie, bei der Implantation von künstlichen Hüftgelenken eingesetzt. In Frankfurt war die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik an der Spitze dieser revolutionären Neuerung. Niedergelassene und Krankenhauschirurg*innen wurden zu Fortbildungen mit opulenten Büfetts eingeladen, bei denen die Individualität und Passgenauigkeit der Hüftprothesen angepriesen wurde, die mit dem Robodoc gefräst und eingesetzt worden waren.
Presse, Funk und Fernsehen trugen die große Begeisterung mit. Etwas neidisch und ungläubig beobachteten wir, wie die BG-Unfallklinik mit ihren drei Robodocs, von denen jeder mehr als eine halbe Million Euro gekostet hatte, eine geradezu magnetische Sogwirkung auf die Hüftgelenkskranken der Region und auch darüber hinaus ausübte. Den Patient*innen war der Rolls-Royce der Hüftgelenksprothesen versprochen worden.

 Aber die langfristigen Ergebnisse waren katastrophal. Die Robodoc-Patient*innen hatten häufig ausgedehnte Muskel- und Nervenschäden, wodurch sie unwiderruflich zu Invaliden wurden, mit Dauerschmerzen, bei jedem Schritt auf Krücken angewiesen, völlig arbeitsunfähig, bald frühberentet.[...] (Bernd Hontschik: Roboter im Operationssaal, FR 15.12.18)

"2018 reichte die niederländische Journalistin Jet Schouten ein billiges Kunststoffnetz für Mandarinen aus dem Supermarkt als Vaginalnetz zur Beckenbodenstabilisierung zur Zulassung ein. Das Netz wurde akzeptiert." (Bernd Hontschik: Horror im Mandarinennetz, FR 20.4.19)

Die Kontrollen der Materialien und Maschinen im Gesundheitswesen sind unzureichend. Immer wieder decken Journalisten neue Pleiten auf.


Mehr dazu in der Wikipedia: Implant Files
Dort auch die folgenden Links:
medicaldevices.icij.org Seite der ICIJ zum Zugriff auf eine zusammengestellte Datenbank über medizinische Geräte
Akten Implant Files NDR Website Norddeutscher Rundfunk
Akten Implant FIles SZ Website Süddeutsche Zeitung

Freitag, 19. April 2019

Ein Versuch, Elektroautos als besonders ökologisch darzustellen

https://www.focus.de/auto/elektroauto/studie-zu-klima-folgen-ifo-institut-rechnet-e-autos-schlecht-und-macht-dabei-viele-fehler_id_10611851.html

"[...] So geht die ifo-Studie wohl davon aus, dass ein Akku nach 150.000 Kilometern oder zehn Jahren Sondermüll ist und durch ein neu hergestelltes Bauteil ersetzt werden muss. Das ist in der Praxis nicht so.

"Batterien halten ein ganzes Autoleben"

So ist das meistverkaufte Elektro-Auto der Welt, der Nissan Leaf, mittlerweile seit über acht Jahren auf dem Markt und es gibt immer noch keine steil ansteigende Akku-Defekt-Kurve. Auch Frank Blome, der Leiter des VW-Batterie-Entwicklungszentrums, verspricht: "Unsere Batterien halten ein ganzes Autoleben."
Und selbst wenn ein Akku sein Lebensende erreicht, dann werden die Rohstoffe, die einen großen Teil des Herstellungs-CO2-Fußabdrucks ausmachen, recycelt. Schon heute schreibt die EU eine Recycling-Quote von 50 Prozent von Lithium-Ionen vor. Das finnischeÖko-Energie-Unternehmen fortum will schon 80 Prozent umweltfreundliches Recycling in industriellem Maßstab schaffen und das belgischeUnternehmen Umicore will die Akkus der elektrischen Rennsport-Serie Formel E komplett recyclen können
Auch Tesla will in seinem Werk in Nevada E-Auto-Akkus recyclen. [...]"

Die Hervorhebungen durch gelben Hintergrund stammen von mir, nicht von focus.de .

Flucht aus dem Zug ins Vernichtungslager

764 Sprünge in die Freiheit  Spiegel online 14.3.2014
"Jeder kennt die Bilder der Waggons, mit denen Juden in Konzentrationslager transportiert wurden. Dass Hunderten die Flucht aus den Todeszügen gelang, ist kaum bekannt. Nun dokumentiert eine Studie die Ausbrüche und liefert Erklärungen, warum die Geflüchteten jahrzehntelang schwiegen."
"[...] Das lange Schweigen der Überlebenden
So wurde wenig bekannt über die oft gnadenlosen Bewacher. Aber auch viele der Geflohenen schwiegen nach dem Krieg. Manche, weil sie von anderen KZ-Überlebenden nicht als gleichwertig respektiert wurden - schließlich hatten sie den Horror in den Vernichtungslagern nicht erlebt. Andere aus Schuldgefühlen, weil sie geflohen waren. Die Belgierin Claire Prowizur etwa hatte ihren todkranken Vater im Waggon zurückgelassen. Erst Jahrzehnte später erfuhr sie zufällig, dass er noch einmal im Waggon das Bewusstsein erlangt hatte - und überglücklich war, dass seine Tochter geflohen war.
Auch Simon Gronowski schwieg fast sechs Jahrzehnte. Seine Mutter und Schwester wurden in Auschwitz ermordet, sein Vater zerbrach daran und starb kurz nach dem Krieg. Gronowski wollte nach vorne blicken, wurde Anwalt, spielte Klavier, begeisterte sich für Jazz und redete kaum über den Krieg.
Doch die Vergangenheit ließ ihn nicht los. Er musste an den belgischen Polizisten denken, der ihm damals womöglich das Leben rettete. Fühlte sich verpflichtet, gegen den immer noch grassierenden Antisemitismus vorzugehen. Also begann er 2002, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben und Vorträge zu halten.
Sechs Wunder
"Mein Leben besteht nur aus Wundern", sagt der 82-Jährige mit kraftvoller Stimme. Der Sprung aus dem Todeszug. Der Krebs, den er besiegte. Die lebenslange Freundschaft zu dem Sohn eines flämischen Nazis. Das späte Treffen mit einem Wachmann, der ihn einst mit vorgehaltener Waffe zum Zug geführt hatte: Die beiden alten Männer trafen sich, der Wachmann bat aufrichtig um Verzeihung, dann fielen sich beide weinend in die Arme. [...]"

Zur Analogie des Brandes von Notre Dame mit ...

In Notre Dame wurde ein Feueralarm ausgelöst. Man suchte nach und fand nichts.
Das was vorlag, war so unscheinbar, dass man es nicht entdecken konnte, wenn man nicht wusste, was genau man suchen musste und wo in etwa es zu finden wäre.
Nach dem zweiten Alarm schließlich wurde das Feuer entdeckt und allgemeiner Alarm ausgelöst. Hunderte kamen um zu helfen. Fragwürdige Lösungen wie Löschflugzeuge, die tonnenweise Wasser hätten ablassen können, wurden verworfen, weil sie vermutlich noch mehr Zerstörungen hätten anrichten können. Schließlich war der größte Brandherd eingedämmt. Wenige Minuten später hätten die Haupttürme einstürzen können.

Noch musste Brandwache gehalten werden, weil nicht bekannt war, ob und wo noch etwas glimmte, das das Feuer von neuem hätte aufflammen lassen können. Da war schon die Spendenbereitschaft groß. 500 Millionen Euro von Privaten, in 5 Jahren wird die Kirche wieder hergestellt sein, versprach der Staatspräsident.

Auffallend ist die Analogie zum Klimawandel.
Es gibt Warnzeichen: Die menschliche Zivilisation zerstört ihre Lebensgrundlagen: Es erscheint "Der stumme Frühling" als Warnung vor DDT und dem Insekten- und Vogelsterben, das es auslöste. Mit dem Verbot von DDT konnte das eingedämmt werden. "Falscher Alarm!" - Dann erscheint "Die Grenzen des Wachstums": Die Ressourcen auf der Erde sind begrenzt. Nur Regelkreise bleiben über kosmische Zeiten hin aufrechterhalten. Dauerhaftes exponentielles Wachstum muss zur Katastrophe führen.
"Falscher Alarm!" Es gibt Ersatzstoffe, selbst das vielseitige Erdöl, das besonders früh auszugehen drohte, kann über Fracking im Überschuss produziert werden, so dass die Preise fallen.
Wir reden zwar weiter von Nachhaltigkeit, fühlen uns aber sicher, dass irgendwo eine neue technische Lösung einen Ausweg bietet.

Jetzt wird von 12 Jahren gesprochen, die noch bleiben, um ein Kippen zu verhindern.
Ein beängstigend kleines Zeitfenster.
Nun: selbst wenn ein Turm stürzt, kann man ihn wieder aufbauen. In Stunden der Not wächst die Hilfsbereitschaft.

Doch hier endet die Analogie. Nach dem Zusammenbruch eines Wachstumszyklus gibt es zwar einen Neuaufbau, aber unter geänderten Bedingungen. Die Natur regeneriert sich. Aber ob danach für die Menschheit noch Platz ist, bleibt unklar.
Wir wissen nicht, wie die Regeneration stattfinden wird, und haben nicht die Zeit, ein paar Millionen Jahre abzuwarten, bis vielleicht wieder Platz für die Menschheit ist.
Was tun? 

Sonntag, 14. April 2019

Eine elegante, schnelle Lösung des Klimaproblems?

"Wir könnten unser Klimaproblem schnell, elegant und global lösen, wenn wir nur wollten. Positive Nebeneffekte, unter anderem: Saubere Luft, leiser Straßenverkehr." (Durchgerechnet: So lösen wir unser Klimaproblem von Christian Stöcker SPON 14.4.19)

"[...] 480 Milliarden Dollar pro Jahr bis 2050, um auf 86 Prozent erneuerbare Energien umzustellen, weltweit
Mindestens 630 Milliarden pro Jahr zusätzliche Einnahmen durch eine flächendeckende Besteuerung des CO2-Ausstoßes mit 70$/t, allein in den G20-Ländern
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Diese Steuer wäre sogar noch niedrig angesetzt: Die realen Schäden, die eine Tonne CO2 verursacht, liegen laut Umweltbundesamt in einer Größenordnung derzeit über 200 Dollar. Die "Fridays for Future"-Demonstranten fordern deshalb eine CO2-Steuer von 180 Euro pro Tonne. Aber mit 70 Dollar pro Tonne wäre schon viel gewonnen. Im Moment tragen diese Kosten wir alle, und unsere Kinder und Enkel.
Eine solche CO2-Steuer befürworten nicht nur führende Wirtschaftswissenschaftler, sondern auch der eher nicht als öko-radikal bekannte "Economist". Weil sie dramatisch besser funktionieren würde als der derzeitige, löchrige, betrugsanfällige und auf wenige Branchen beschränkte Handel mit Emissionszertifikaten. [...]"
(Durchgerechnet: So lösen wir unser Klimaproblem von Christian Stöcker SPON 14.4.19)  
Warum wohl gibt es diese Steuer noch nicht?