Über die politische Kultur der Gegenwart
"[...] Ich bin vor allem deswegen kein Demokrat mehr, weil aus dem gesellschaftlichen Zusammenwirken von Wählern und Gewählten mehr und mehr eine Schauveranstaltung geworden ist. Stars, aus dem Fernsehen bekannt und ausgewählt nach dem Gelingen ihrer Auftritte, buhlen von Zeit zu Zeit um die Gunst des Publikums, das einst seinem Anspruch nach der demokratische Souverän gewesen ist. Unter Wahrung der demokratischen Formen ist der Inhalt dieses politischen Systems gegen wechselnde Events ausgetauscht worden.
In meinem befreundeten Umfeld verstehen nicht alle, warum die Inbesitznahme der Demokratie durch das Fernsehen mich zum distanzierten Beobachter des politischen Treibens hat werden lassen. Was soll schon dabei sein, wenn das Fernsehen die Politik auflockert? Es gibt schlechtere TV-Shows als Sabine Christiansens Beinüberschlag und ihr Talent, den sachlichen Faden, wenn sie ihn einmal in die Hand bekommen hat, an der falschen Stelle abzureißen. Darf die Demokratie denn nicht lustig sein und Spaß machen? Ganz im Gegenteil: Sie muss es unbedingt. Dies liegt im Interesse der Manipulateure des Souveräns.
Über Wilhelm II. hieß es: "Majestät braucht Sonne", mit welcher Begründung dem Kaiser gewisse Kenntnisse von politischen Fehlentwicklungen vorenthalten wurden. Heute soll das souveräne Wahlvolk unterhalten werden; geübte Wahlkampfanimateure haben daraus die Lehre gezogen: Zerstreut es. Das Funktionieren einer Demokratie aber gründet sich auf die Bereitschaft des Souveräns, sich gelegentlich beim Gewinnen von Einsichten in das politische Tun und Lassen und dessen Konsequenzen anzustrengen. Schneller als gedacht wird die Verflachung der Politik in den Massenmedien ein bisschen amüsieren, schließlich langweilen und abstumpfen - und in jedem Falle das gleiche und allgemeine Wahlrecht aushöhlen. Ich bin kein Demokrat mehr. Wie einst das Drei-Klassen-Wahlrecht bestimmte Interessen begünstigte, so wird die Wahlausübung des bei Laune gehaltenen Fernsehpublikums interessengesteuert sein von gesellschaftlichen Gruppen, die selber wenig fernsehen.
(Günter Gaus. Leicht gekürzte Fassung eines am 23. August 2003 in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikels erschienen im Freitag)
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