Samstag, 10. Februar 2018

G. Gaus: Walter Jens

"[...]
Gaus: Können Sie die Moral ein bisschen in Worte fassen, damit nicht falsch verstanden wird, was Sie darunter verstehen? Unter der Moral, die derzeit notleidend ist?

Jens: Ich verstehe darunter, die Dinge aus der Perspektive von unten zu sehen, aus der Perspektive derer, die die Zeche bezahlen. Ich verstehe darunter, sich zu überlegen: Was kostet es die sogenannten Kleinen, wenn da oben Milliardenaufträge für die Rüstungsindustrie vergeben werden? Ich verstehe darunter, sich in die Gedanken einer Witwe aus der Oberlausitz hineinzuversetzen und die Frage nie aus den Augen zu verlieren: Was denkt ein Schichtarbeiter, was eine Rentnerin? Wir sind nicht die Bürger ‚draußen im Land’, sondern sitzen in der Demokratie auf den jedermann zugänglichen Plätzen. Wir alle gehören ins Schloss – und nicht Kohl und Co. Es muss Schluss sein mit dem ‚denn die einen sind im Dunkeln, und die andern sind im Licht, und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht’.
Achten auf diejenigen, die im Dunkeln leben, wie existieren sie mit einer Rente von 700 Mark? – und der Großneffe des Altbesitzers kommt und sagt: Du hast hier zwar, lieber Freund, immer ein bisschen für Nägel und Ziegel gesorgt, aber jetzt komme ich. Miete 300 Prozent höher. Wie lebt man da? Das frage ich unsere Leute in Lüneburg und Osnabrück. Angenommen, euch würde so etwas geschehen, ihr könntet in den alten „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ eintreten. Im eigenen Land enteignet. Das muss man sich mal vorstellen, diese Perspektive durchdenken. [...]"
Mehr dazu: https://www.rbb-online.de/zurperson/interview_archiv/jens_walter.html

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