Freitag, 7. Juli 2017

In Auschwitz

"Wenn es einen einzigen Moment gibt, an dem ich ohne Wenn und Aber zum Deutschen wurde, dann war es nicht meine Geburt in Deutschland, es war nicht meine Einbürgerung, es war nicht das erste Mal, als ich wählen gegangen bin. Schon gar nicht war es ein Sommermärchen. Es war letzten Sommer, als ich den Aufkleber an die Brust heftete, vor mir die Baracken, hinter mir das Besucherzentrum: deutsch. Ich ging zu meiner Gruppe und wartete ebenfalls stumm auf unsere Führerin. Im Tor, über dem „Arbeit macht frei“ steht, stellten sich nacheinander alle Gruppen zu einem bizarren Foto auf. Nur wir schämten uns. [...]
Das kulturelle Gedächtnis braucht Rituale, Mahnmale, Jahrestage, wiederkehrende Bilder und, ja, auch sprachliche Floskeln, um sich zu bilden, zu bewahren und zu entwickeln. Seiner Natur nach tendiert das zeremonielle Gedenken zur Wiederholung und Formelhaftigkeit. Es ruft durch Zeichen eine Erinnerung wach. [...]
Wenn in der eigenen Biographie die Referenzpunkte fehlen, auf die sich das kulturelle Gedächtnis in Formeln, Gesten und Symbolen bezieht, dann werden diese Formeln, Gesten und Symbole als leer empfunden. [...]
Dass der Holocaust in die Ferne rückt, ist allerdings nicht nur den Jahren geschuldet, die vorüberziehen, oder den Kilometern, die zwischen dem heutigen Deutschland und den zentralen Stätten des Völkermords liegen. Es kommt eine demographische Entwicklung hinzu. Immer mehr Menschen leben in Deutschland, die nicht einmal mehr einen familiengeschichtlichen Bezug zum Nationalsozialismus haben. [...]
Je ferner Auschwitz rückt, desto leichter wird es Deutschen wieder fallen, sich an ihrer Geschichte zu erbauen. Und sie werden übersehen, dass gerade in der Gebrochenheit Deutschlands bundesdeutsche Identität und, ja, Stärke und Vitalität liegt. Es gibt nichts Ganzeres als ein gebrochenes Herz, lehrte der Rabbi Nachman von Berditschew.
Der Satz ist einer meiner Lieblingssätze, Motto auch eines Buches von mir. Natürlich bezieht er sich auf die Liebe, die Liebe zu den Mitmenschen oder zu Gott, in jedem Fall auf eine individuelle Situation. Aber er lässt sich auch auf ein Gemeinwesen beziehen: Es gibt nichts Ganzeres als ein gebrochenes Herz. Wenn etwas spezifisch wäre an der deutschen Leitkultur, die dieser Tage wieder eingefordert wird, wären es nicht Menschenrechte, Gleichberechtigung, Säkularismus und so weiter, denn diese Werte sind durchweg europäisch, wenn nicht universal; es wäre das Bewusstsein seiner Schuld, das Deutschland nach und nach gelernt und auch rituell eingeübt hat – aber just diese eine Errungenschaft, die nicht Frankreich oder die Vereinigten Staaten, sondern die Bundesrepublik für sich reklamieren darf neben guten Autos und Mülltrennung, möchte das nationale Denken abschaffen. Umgekehrt gilt allerdings auch: Wer sich gegen ein völkisches Verständnis der Nation wendet, kann die historische Verantwortung nicht ethnisch engführen. Wer sich in Deutschland einbürgern lässt, wird auch die Last tragen müssen, Deutscher zu sein. Spätestens in Auschwitz wird er sie spüren, wenn er sich den Aufkleber an die Brust heftet. [...]"
(Ausschnitte aus der  Rede, die Navid Kermani zum zwanzigjährigen Bestehen des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der LMU München gehalten hat: Die Zukunft der Erinnerung faz.net 7.7.17)

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