Donnerstag, 9. April 2020

"Zuhause bleiben" zu können ist eine unverdiente Möglichkeit

So sehr es von vielen als Zumutung empfunden werden wird. Zuhause bleiben ist eine Chance, die vielen Millionen nicht gegeben wird. Nicht den über 70 Millionen, die gegenwärtig unterwegs sind: auf der Flucht vor unerträglichen Verhältnissen oder wie die Wanderarbeiter in Indien, die in großen Mengen zu Tausenden ohne jeden Sicherheitsabstand durch das Land ziehen, weil sie vertrieben worden sind.

Dazu Arundhati Roy:

"Der Lockdown funktionierte wie ein chemisches Experiment, bei dem Verborgenes plötzlich sichtbar wird. Geschäfte, Lokale, Fabriken und der Bausektor wurden geschlossen, und während sich Wohlhabende und Mittelschichten in ihre geschlossenen Wohnanlagen zurückzogen, fingen unsere Städte und Megastädte an, ihre Einwohner aus der Arbeiterschicht, die Wanderarbeiter, auszustoßen wie unerwünschte Substanzen. Viele wurden von Arbeitgebern und Vermietern vertrieben. Millionen verarmter, hungriger, durstiger Menschen, Junge und Alte, Männer, Frauen, Kinder, kranke Menschen, blinde Menschen, Menschen mit Behinderungen, die sonst nirgendwo hinkonnten und keine öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung hatten, machten sich auf den langen Fußmarsch nach Hause in ihre Dörfer. Tagelang marschierten sie, von Delhi aus in Richtung Badaun, Agra, Azamgarh, Aligarh, Lucknow, Gorakhpur – Hunderte Kilometer weit. Einige von ihnen starben unterwegs.
Ihnen war klar, dass sie zu Hause womöglich langsam verhungern würden. Vielleicht war ihnen auch klar, dass sie möglicherweise das Virus mitbringen und ihre Familie anstecken würden, ihre Eltern und Großeltern in der Heimat. Doch sie brauchten so dringend ein kleines bisschen Vertrautheit, Unterschlupf und Würde, außerdem Essen, wenn nicht gar Liebe. Einige wurden unterwegs brutal zusammengeschlagen und gedemütigt von der Polizei, die Befehl hatte, die Ausgangssperre streng durchzusetzen. Junge Männer wurden gezwungen, sich hinzuhocken und wie Frösche auf der Autobahn zu hüpfen. Vor der Stadt Bareilly wurde eine Gruppe zusammengetrieben und mit einem Desinfektionsmittel besprüht. Die Regierung befürchtete, die flüchtenden Menschen würden das Virus in die Dörfer tragen. Und so schloss sie ein paar Tage später die Grenzen zwischen den Bundesstaaten sogar für Menschen, die zu Fuß unterwegs waren. Menschen, die schon einen tagelangen Marsch hinter sich hatten, wurden gestoppt und mussten in Lager in den Städten zurückkehren, die sie gerade zwangsweise verlassen hatten." (Arundhati Roy: Durch das Tor des Schreckens, ZEIT 16/2020)

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