Immer wieder bin ich beeindruckt von der Klarheit, mit der Albrecht auf gutefrage.net philosophische Zusammenhänge darzustellen versteht.
"Sinnliche Erkenntnis nach Alexander Gottlieb Baumgarten ist die Erkenntnis der unteren Erkenntnisvermögen.
Zu den unteren Erkenntnisvermögen (unterscheiden von oberen Erkenntnisvermögen wie Verstand und Vernunft) gehören Sinn (sensus), Phantasie/Einbildungskraft (phantasia), sinnlicher Geist [als Fähigkeit, Ähnlichkeit zu erkennen] (ingenium sensitivum), sinnlicher Scharfsinn [als Fähigkeit, Verschiedenheit zu erfassen] (acumen sensitivum), beides zusammen die feine/durchdringende Einsicht (perspicacia), sinnliches Gedächtnis (memoria sensitiva), Dichtungsvermögen (facultas fingendi), Vorhersehung (praevisio), Fähigkeit des Urteils/der Unterscheidung (facultas diiudicandi). Erwartung (exspecatio casuum similium, praesagitatio), Fähigkeit der Zeichenkunde (facultas characteristica sensitiva).
Die untere Erkenntnislehre entwickelt Baumgarten als Ästhetik. Ihr Ziel ist Vollkommenheit/Vervollkommung (perfectio) der sinnlichen Erkenntnis.
Baumgarten geht von den Annahmen und der Begrifflichkeit des Rationalismus aus. Die Ästhetik ist als Ergänzung der logisch richtigen Darstellung mit Hilfe von Verstand/Vernunft (Ratio) gedacht.
Wichtig ist die Unterteilung von Vorstellungen (ideae) in der rationalistischen Tradition. Sie können klar (clarae) oder dunkel (obscurae) sein, je nachdem ob sie durch Erfassen von Merkmalen zu einem Wiedererkennen der Dinge ausreichen oder nicht, distinkt/deutlich unterschieden (distinctae) oder konfus/verworren (confusae), je nachdem ob sie alle Wesensmerkmale genau erfassen, daher das Ding von anderen unterscheiden können und ihr Gegenstand begrifflich wohlbetsimmt ist.
Sinnliche Erkenntnis bezieht sich bei diesen Bezeichnungen auf den Bereich verworrener, nicht deutlich unterschiedener Vorstellungen.
Alle von Sinnesvermögen stammenden Vorstellungen sind nicht distinkt, weil sie dem Bereich der Anschauung angehören, kein begriffliches Denken enthalten ist.
Sinnliche Erkenntnis leistet aber nach Baumgarten einen Beitrag zu wirklicher Erkenntnis. Sie ist nach ihm nicht irrational, sondern der Ratio analog (ihr entsprechend). Die sinnlichen Erkenntnisvermögen haben eine innere Eigengesetzlichkeit und eine von Verstand und Vernunft unabhängige Erkenntnismöglichkeit. Ihre Urteilskraft, der Geschmack, kann etwas wie Harmonie, Ausgewogenheit und Zusammenstimmen der Teile zusammengesetzter Dinge bemerken und so feststellen, ob sie vollkommen oder unvollkommen sind. Sinnliche Erkenntnis ist eine Vergegenwärtigung der Dinge in ihren mannigfaltigen, sinnlich wahrnehmbaren Merkmalen. Baumgarten hebt ihre Reichhaltigkeit (Reichtum und Fülle) hervor, gegenüber der Abstraktion des begrifflichen Denkens, das vom Reichtum der Erscheinungen absehe und im Vergleich zur Anschauung auch einen Verlust darstelle.
Die sinnliche Erkenntnis hat nach Baumgarten ihre eigene Wahrheit, die sich auf die Dinge, wie sie erscheinen, bezieht.
Als Zusammenführung sinnlicher Erkenntnis und logischer Erkenntnis denkt Baumgarten (Aesthetica § 440) die ästhetikologische Wahrheit (veritas aestheticologica).
Ein Unterschied zu den Begriffen sinnlichen Wahrnehmung und sinnliche Erfahrung liegt darin, bei der sinnlichen Erkenntnis ausdrücklich einen Anspruch auf eine Gültigkeit/Wahrheit zuzubilligen. Sinnliche Wahrnehmung und sinnliche Erfahrung können auch ein schlichtes Empfinden ohne klare Vorstellung sein."
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