Juli 2015 hat Angela Merkel einer Geflüchteten palästinensischen Ursprungs erklärt, "dass in den palästinensischen Lagern im Libanon noch Abertausende Flüchtlinge sitzen. Deutschland könne es nicht schaffen, allen Flüchtlingen im Nahen Osten oder denen in Afrika zuzurufen: 'Ihr könnt alle kommen.' " (Hannoversche Allgemeine 16.7.2015) Daraufhin gab es unter dem Hashtah #merkelstreichelt eine große Empörungswelle über ihre Reaktion.
Am 31.8.2015 sagt Angela Merkel über die Bewältigung des Flüchtlingsproblems: "Wir schaffen das." Am 4.9.15 entscheidet sie, Flüchtlinge aufzunehmen, die sich aus Budapest aufmachen, um zu Fuß nach Österreich zu laufen. Sie sollen ausnahmsweise die Grenze passieren dürfen.
Am 3.6.2019 erheben Menschenrechtsanwälte beim Internationalen Strafgerichtshof in Klage gegen Angela Merkel und andere Politiker, ihre Politik Bewältigung des Flüchtlingsproblems sei ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Die Klage wird am 12.10.19 angenommen.
Am 23. 7. 2020 erklärt Merkels Kabinettsmitglied Bundesminister Seehofer: "Der Zustand ungeordneter Migration muss beendet werden."
Was ist da vor sich gegangen?
Eine Antwort darauf hat Caterina Lobenstein am 20. August 2020 in dem ZEIT-Artikel An der Grenze in 110 Nachrichten gegeben. Daraus zitiere ich im Folgenden einzelne Nachrichten. Die Zitate sollen dazu anregen, den vollständigen Text zu lesen.
Im Fall, dass der Eindruck entsteht, dass das nicht gelingt, werde ich sie wieder löschen.
(Sobald die Textauszüge in ein neues Jahr springen, wird die Jahreszahl fett gedruckt.)
"Vor fünf Jahren entschied Angela Merkel, mehrere Hunderttausend Flüchtlinge ins Land zu lassen. Und heute? Eine Geschichte in 110 Nachrichten"
"Spätsommer 2015: In Syrien ist seit vier Jahren Krieg. Der "Islamische Staat" rückt vor, das Assad-Regime bombardiert aus der Luft, selbst Kinder werden an die Front geschickt. In den Flüchtlingslagern der Nachbarstaaten Jordanien und Libanon gehen die Nahrungsmittel aus.
Auch in Afghanistan fliehen die Menschen vor Terror und Krieg, ebenso im Irak und in Nigeria. Und vielerorts treibt die Armut die Menschen aus ihrer Heimat. In dieser Situation entscheidet Angela Merkel, mehrere Hunderttausend Flüchtlinge und Migranten ins Land zu lassen. Fortan gilt sie weltweit als Fürsprecherin der Menschlichkeit, als "Flüchtlingskanzlerin".
Tatsächlich werden die Grenzen der Menschlichkeit bald enger gezogen. In Deutschland und Europa beginnt damals ein Drama um Öffnung und Abschottung, das bis heute andauert. Es treten auf: Flüchtlinge und Schlepper, Grenzpolizisten und Seenotretter, Nationalisten und Humanisten, Demokraten und Autokraten. Die folgenden Seiten erzählen diese Geschichte anhand von Nachrichten aus den vergangenen fünf Jahren. Die meisten Ereignisse haben sich zugetragen, als das Land längst wieder über andere Themen sprach.
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31. August 2015
Angela Merkel hält ihre Sommerpressekonferenz. Sie sagt zum ersten Mal den Satz, der später berühmt und berüchtigt werden wird: "Wir schaffen das." [...]
19. März 2016
Im Norden Syriens sind mehr als 100.000 Menschen auf der Flucht Richtung Türkei, werden aber nicht ins Land hineingelassen. Nach dem Deal mit der EU hat die Türkei, in der bereits rund drei Millionen syrische Flüchtlinge leben, ihre Grenze weitgehend verriegelt. Betonmauern versperren den Weg, drei Meter hoch, Hunderte Kilometer lang. Soldaten patrouillieren mit Gewehren, moderne Sensoren registrieren selbst kleinste Bewegungen. Den Grenzwall, den Merkel nie wollte, hat Erdoğan für sie errichtet.
21. März 2016
In Idomeni, wo sich mittlerweile mehr als 10.000 Menschen stauen, versucht ein Mann sich anzuzünden.
22. März 2016
In Brüssel sprengen sich drei IS-Terroristen in die Luft. Sie töten 32 Menschen, mehr als 300 werden verletzt.
4. April 2016
Auf den griechischen Inseln, die kein Flüchtling mehr Richtung europäisches Festland verlassen darf, werden einige Syrer in die Türkei abgeschoben. Eigentlich sieht der EU-Türkei-Deal vor, dass alle zurückgeschickt werden. Dieser Plan aber geht nicht auf. Unter anderem, weil Griechenlands Behörden überlastet und viele Gerichte der Auffassung sind, die Türkei sei für Flüchtlinge kein sicherer Ort. In den Lagern auf Lesbos, Samos und den anderen Ägäis-Inseln stauen sich fortan Tausende Menschen.
12. April 2016
In Italien kommen an einem einzigen Tag mehr als 2200 Flüchtlinge an. Während die Fluchtroute über die Ägäis und den Balkan nun weitgehend versperrt ist, kommen über das zentrale Mittelmeer zwischen Libyen und Italien jeden Monat weiterhin Zehntausende Menschen. Insgesamt erreichen 2016 mehr als 180.000 Bootsflüchtlinge das Land, sie kommen vor allem aus Eritrea, dem Sudan und Westafrika.
6. November 2017
Im Mittelmeer filmen Aktivisten der Organisation Seawatch ein Rettungsmanöver der libyschen Küstenwache. Auf dem Video sieht man, wie Gerettete an Bord des libyschen Schiffs mit Seilen verprügelt werden. Und wie die Libyer mit hoher Geschwindigkeit losfahren, obwohl noch ein Mensch an der Außenleiter hängt. Ein Helikopter des italienischen Militärs beobachtet sie dabei. Als die Italiener den Mann an der Leiter entdecken, rufen sie über Funk: "Libysche Küstenwache, stoppen Sie den Motor! Hier spricht der italienische Marinehelikopter! Sie haben eine Person an der Leiter. Wir fordern Sie auf, zu stoppen! Jetzt! Jetzt! Jetzt!" Die Libyer fahren unbeirrt weiter.
14. November 2017
Der amerikanische Nachrichtensender CNN veröffentlicht erstmals Filmmaterial, das die Existenz der Sklavenmärkte in Libyen belegen soll. Das Video zeigt eine nächtliche Auktion in einem Hinterhof. Dort wird unter anderem ein Mann aus Nigeria als "großer, starker Junge für die Feldarbeit" angepriesen. Anschließend wird er versteigert, für umgerechnet 800 Dollar.
21. November 2017
In Serbien wird das sechsjährige afghanische Mädchen Madina Hussini von einem Zug erfasst und getötet. Das Mädchen und seine Familie hatten versucht, über die grüne Grenze nach Kroatien zu kommen, um dort um Asyl zu bitten. Laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wurden sie jedoch von kroatischen Polizisten unrechtmäßig zurück nach Serbien geschickt. Die Polizisten hätten sie angewiesen, den Bahngleisen zu folgen. Die Polizei bestreitet das.
31. Dezember 2017
Angela Merkel hält ihre Neujahrsansprache. Die Flüchtlinge kommen darin nicht mehr vor.
24. April 2018
Geberkonferenz für Syrien in Brüssel. Von der Summe, die Hilfsorganisationen benötigen, um Kriegsgeschädigte und Binnenflüchtlinge zu versorgen, ist erst ein knappes Viertel zugesagt. Bundesaußenminister Heiko Maas verspricht eine Milliarde Euro, zusätzlich zu laufenden Verpflichtungen. Laut den Vereinten Nationen sind in Syrien mehr als 13 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen.
25. Juni 2018
Auf dem Dresdner Neumarkt spricht Pegida-Mitgründer Siegfried Däbritz vor seinen Anhängern über das deutsche Rettungsschiff Lifeline, das zur selben Zeit mit 234 Flüchtlingen an Bord ziellos auf dem Mittelmeer treibt, weil kein europäischer Staat es einlaufen lassen will. Die Pegida-Demonstranten skandieren: "Absaufen! Absaufen!"
28. Juni 2018
Die libysche Küstenwache bekommt eine eigene Seenotrettungszone zugeteilt. Von nun an koordiniert nicht mehr Italien, sondern Libyen die Rettungseinsätze im Mittelmeer. Der Rückführung der schiffbrüchigen Flüchtlinge nach Libyen steht nichts mehr im Weg – das Ziel der europäischen Abkommen mit Libyen ist erfüllt. Nur die zivilen Retter beharren darauf, die Menschen nach Europa zu bringen. Sie werden von der italienischen Regierung nun immer öfter behindert: Strafverfahren werden verhängt, Schiffe beschlagnahmt, Kapitäne verklagt. Und: Die Italiener und andere EU-Mittelmeeranrainer verbieten den zivilen Rettern, ihre Häfen anzusteuern.
10. Juli 2018
In München startet ein Abschiebeflug nach Kabul, an Bord 69 abgelehnte afghanische Asylbewerber. Horst Seehofer hat an diesem Tag Geburtstag. Er sagt: "Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 – das war von mir so nicht bestellt – Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden." Einer der Abgeschobenen wird sich nach seiner Ankunft in Kabul erhängen.
20. November 2018
Italienische Behörden kündigen an, das zivile Rettungsschiff Aquarius zu beschlagnahmen – wegen angeblicher Fehler bei der Entsorgung von Bordabfällen.
6. Dezember 2018
Das Rettungsschiff Aquarius beendet seinen Einsatz im Mittelmeer. Der politische Druck sei zu groß geworden, sagen die Betreiber.
10. Februar 2019
Im Hafen von Palma de Mallorca steht ein Mann vor einem Schiff mit dunkelblauem Rumpf und weint: der Vater von Alan Kurdi, der mittlerweile im Irak lebt. Er hatte auf dem Mittelmeer seine Frau und seine beiden Söhne verloren. Jetzt ist er angereist, um ein ziviles Rettungsschiff zu taufen: auf den Namen seines Sohnes.
3. Juni 2019 Die Menschenrechtsanwälte Omer Shatz und Juan Branco reichen beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Klage gegen europäische Politiker und Beamte ein, darunter Angela Merkel. Shatz, der an den Universitäten Sciences Po und Yale lehrt, sagt, die Toten im Mittelmeer seien "fester Bestandteil des Plans, die Migrationsströme aus Afrika einzudämmen. Diese Politik wurde in den letzten fünf Jahren vorsätzlich entworfen und umgesetzt. Sie ist keine Tragödie: Sie ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit." Die Chefanklägerin des Gerichtshofes, Fatou Bensouda, untersucht bereits seit 2017 mutmaßliche Verbrechen, die in den libyschen Lagern begangen wurden. Mit ihrer Klage wollen die beiden Anwälte bewirken, dass die Untersuchungen auf europäische Politiker ausgeweitet werden, die für die Kooperation mit Libyen verantwortlich sind.
12. Juni 2019
Vor der libyschen Küste rettet das Schiff Seawatch 53 Menschen. Am Steuer steht eine 31-jährige deutsche Kapitänin namens Carola Rackete. Nachdem sie 17 Tage vergeblich einen europäischen Hafen gesucht hatte, um die Menschen an Land zu lassen, fährt sie gegen den Willen der italienischen Regierung in den Hafen von Lampedusa ein. Als sie von Bord geht, wird sie festgenommen. Wenig später kommt sie frei.
2. Juli 2019
In Tadschura, einem Stadtteil von Tripolis, wird ein Lager für Flüchtlinge und Migranten bombardiert. Etwa 60 Insassen sterben.
23. August 2019
An der belgischen Küste wird die Leiche eines 48-jährigen Mannes aus dem Irak angespült. Er wollte durch den Ärmelkanal nach Großbritannien schwimmen – mit einer selbst gebastelten Schwimmweste aus leeren Plastikflaschen. Laut Medienberichten soll der Mann zuvor vergeblich versucht haben, in Deutschland Schutz zu bekommen.
12. Oktober 2019
Der internationale Gerichtshof in Den Haag nimmt die Klage gegen Angela Merkel und weitere europäische Politiker und Beamte an.
30. Oktober 2019
Der italienische Außenminister Luigi Di Maio spricht im italienischen Parlament. Er sagt, die Zahl der Bootsflüchtlinge aus Libyen sei innerhalb von zwei Jahren von 170.000 auf 2000 gefallen: "Das Abkommen funktioniert." Auch die Zahl der Toten im zentralen Mittelmeer ist gesunken, von knapp 2900 im Jahr 2017 auf 750 im Jahr 2019.
30. Januar 2020
Griechenland kündigt an, einen schwimmenden Zaun im Mittelmeer zu installieren, um Flüchtlinge abzuhalten. Im Lager Moria auf Lesbos hausen mittlerweile mehr als 20.000 Asylbewerber. Für sie alle stellt die griechische Regierung nur zwei Ärzte bereit. Insgesamt stecken auf den griechischen Inseln 40.000 Schutzsuchende fest. Einige deutsche Politiker fordern, zumindest minderjährige Bewohner zu evakuieren. Zwei Monate später wird in Hannover ein Flugzeug landen – mit 47 jungen Flüchtlingen aus Griechenland an Bord.
19. Februar 2020
Schwere Kämpfe und Luftangriffe in Idlib lösen eine Massenflucht aus. Seit Dezember 2019 wurden im Nordwesten Syriens rund 900.000 Menschen vertrieben.
23. Juli 2020
Bundesinnenminister Horst Seehofer trifft sich mit europäischen Amtskollegen in Wien. "Die Migration auf der Westbalkanroute steigt", sagt er. "Der Zustand ungeordneter Migration muss beendet werden."
Im Jahr 2015 sind 1.065.000 Asylbewerber in die EU gelangt. Fünf Jahre später waren es in den ersten sieben Monaten des Jahres 2020 nur noch 41.129.
Seit 2015 haben laut offiziellen Angaben 15.602 Menschen ihr Leben im Mittelmeer verloren.
Die Zahl der Flüchtlinge weltweit ist seit dem Sommer 2015 gestiegen: Damals waren 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Heute sind es fast 80 Millionen."
https://www.zeit.de/2020/35/fluechtlinge-fluechtlingskrise-2015-europaeische-union-grenzen/komplettansicht
Sieh auch:
5 Jahre nach: "Wir schaffen das!" Eine Zwischenbilanz von Arnfried Schenk, ZEIT 19.8.2020
Experte warnt vor Massenflucht FR 23.8.2020
Flüchtlinge (ZUM-wiki-Artikel, aktueller Stand. Die Erstfassung stammt vom 5.8.2009)
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