Andreas Bernard: Wen kümmert's, wer spricht?
"Heute reden viele Linke über Identität, als sei sie naturgegeben und unverrückbar. Oder sie ignorieren den historischen Kontext von Kunstwerken. Dabei haben frühe kritische Denker gegen solche Haltungen gekämpft. Was ist da passiert? [...]
Eine der meistdiskutierten Thesen von Michel Foucault und Roland Barthes war ja die Rede vom "Tod des Autors"*; ihre wissensgeschichtlich und literaturtheoretisch ausgearbeitete Kritik des souveränen Subjekts spitzte sich am Ende der Sechzigerjahre in zwei berühmt gewordenen Aufsätzen zu. Die Eingangssätze von Was ist ein Autor?, in denen Foucault Samuel Beckett zitiert, lauten: "›Wen kümmert’s, wer spricht?‹ In dieser Gleichgültigkeit äußert sich das wohl grundlegendste ethische Prinzip zeitgenössischen Schreibens." Genau diese Position greift die indischstämmige Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak in ihrem Essay, der als ein Gründungsmanifest "postkolonialer" Theoriebildung gilt, vehement an. [...]
Die Überzeugungskraft, die Spivaks Reflexion über den "Ort des Forschers" vor allem in den letzten fünfzehn Jahren auf kulturtheoretische Perspektiven und Sprechweisen ausgeübt hat, wird bei der Lektüre ihres Essays unmittelbar verständlich. Tatsächlich scheint eine Kluft zu bestehen zwischen den Texten der Pariser Theoretiker, die historischen Rändern und Außenseitern gewidmet sind, und der elitären Linearität ihrer eigenen Karrieren, von der École normale supérieure zum Collège de France. Für eine ganze Generation an Theorieinteressierten muss es ein augenöffnender Moment gewesen sein: Spivak richtete jene Sensibilität für das Aufspüren von verborgenen Leerstellen des Diskurses, die man von Foucault und Derrida gelernt hatte, nun plötzlich auf einen von diesen Autoren selbst ausgesparten blinden Fleck – auf die Position der Sprecher, auf die begünstigenden oder hemmenden Effekte, die ihre Herkunft oder ihr Geschlecht auf das Gesagte hatten. [...]
Spivaks und Butlers Veröffentlichungen, die zu Urtexten neuer Wissenschaftsdisziplinen und Studiengänge auf der ganzen Welt geworden sind, bezeichnen einen erkenntnistheoretischen Bruch. Denn die beiden stellen ihre theoretischen Positionen zwar in den Kontext der "poststrukturalistisch" genannten Analysen, untersuchen Konstruktionsweisen des vermeintlich Naturgegebenen und Selbstverständlichen. Aber gleichzeitig führen sie einen Fluchtpunkt des Denkens ein, der einem zentralen Begriff der Dekonstruktion und Diskursanalyse genau entgegengesetzt ist. Derrida oder Deleuze stellten ihre Untersuchungen ins Zeichen der "Differenz". In den aufkommenden gender studies und postcolonial studies wird ab den Neunzigerjahren "Identität" zur Leitkategorie. Aus Spivaks titelgebender Frage, ob "die Subalternen sprechen können", ergibt sich diese Fokussierung zwangsläufig, denn nur wer männlich, weiß und etabliert ist, kann die Identitätskategorien von Geschlecht, Ethnie und Sozialstatus in seiner Redeperspektive ignorieren. [...]
Die aktuelle kulturkritische Verschiebung äußert sich also in einer Umleitung der Relativierungsenergie: Unentwegt befragt werden inzwischen nicht mehr die erkenntnisstiftenden Fundamente der behandelten Texte, sondern die identitätsstiftenden Fundamente der beteiligten Sprecher. Und vielleicht wird der Unmut, den die postkolonialen Redeweisen gerade bei den frühesten Exegeten der Dekonstruktion auslösen, genau durch die Erfahrung einer Rollenumkehr verstärkt. Noch in den frühen Neunzigerjahren konnten die biederen Gewissheiten der literarischen Hermeneutik mit ein paar Bemerkungen zum medialen Apriori oder zum unendlichen Aufschub der Signifikanten provoziert werden. Heute sind es die lieb gewonnenen Fundamente einer Diskursanalyse, welche die eigene Sprecherposition immer ausgeklammert hat, die durch das Augenmerk auf impliziten Privilegien der Rede zu bröckeln beginnen. [...]
Auch wenn die gegenwärtigen Konfrontationen also von der schlichten Kränkung zugespitzt werden, dass eine Theorieavantgarde die vorige ablöst, lassen sich doch einige grundlegende Veränderungen beobachten, die sich in den vergangenen Jahren in den kulturkritischen Denkweisen ergeben haben. Diese Veränderungen betreffen vor allem die Rolle der Geschichte und den Status von Wahrheit. Ein Argumentationsgestus, der im Namen der gender und postcolonial studies häufig sichtbar wird, ist die Auffassung, dass die Kulturerzeugnisse aus den unterschiedlichsten Epochen mit den ethischen Maßstäben der Gegenwart bewertet werden müssen. Als sexistisch oder rassistisch ausgemachte Gehalte von Kunstgebilden scheinen die Jahrhunderte unverwandelt zu überdauern.
Der Fokus der Theoriebildung auf dem Begriff der "Identität" in der Folge Spivaks und Butlers ist also mit einem nachlassenden Interesse an der Geschichtlichkeit von Erkenntnis einhergegangen. [...]
Inzwischen hat der überwältigende kulturelle und politische Erfolg der gender studies dazu geführt, dass Hermaphroditismus und Transsexualität glücklicherweise immer seltener pathologisiert werden. Zum anderen aber hat er die Existenzform des Dazwischen, die in Foucaults und Butlers Studien eher als latent leidvolle Position aufgefasst wurde, in eine Feier der Transition verwandelt. Der Einsatz der Vorsilbe trans* heute, die immer weiter ausdifferenzierte, regelmäßig um neue Initialen ergänzte LGBTIQ-Community sollen vor allem Stolz und Empowerment repräsentieren. Die Erfahrung der Nicht-Identität ist zumindest in den öffentlichen Debatten in den Hintergrund gerückt. Wenn man die theoriegeschichtliche Herkunft der gender studies bedenkt, lässt sich also der Eindruck einer merkwürdigen Reessentialisierung der Geschlechtsidentität nicht verwischen. Erfüllte Individualität scheint heute gleichbedeutend mit der selbsttätigen, im vielfältigen Spektrum des Möglichen getroffenen Wahl des Geschlechts zu sein. Man könnte von einer neoliberalen Ideologie der Diversity sprechen.
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Entscheidend ist, dass eine Kritik dieser Ideologie nichts mit dem Wunsch nach der Wiederherstellung normativer Ordnungen zu tun hat. Eher geht es um das Gegenteil: um den Eindruck, dass gerade von politisch verantwortungsvoller, theoretisch informierter Seite neue Naturalisierungen geschaffen werden, die Naturalisierung des Vielfältigen und Heterogenen, die historische und ästhetische Prozesse bei der Fahndung nach unliebsamen Inhalten ignoriert und ihre Forderungen ausgerechnet mit Methoden der polizeilichen Autorität durchsetzen will.
Im Angesicht der aktuellen Verbots- und Tilgungsoffensiven lohnt es sich daher vielleicht, an eine kulturtheoretische Herangehensweise zu erinnern, die man als Ethik der Interpretation bezeichnen könnte. Roland Barthes’ Reflexionen über die Produktionsbedingungen von Sinn gehören diesem Denkstil ebenso an wie Adornos dialektische Hypothese, dass literarische Gesellschaftskritik nur als Versenkung in Fragen der Form möglich sei, oder jener Hinweis Foucaults, dass die Gleichgültigkeit der Autorenposition das "grundlegendste ethische Prinzip zeitgenössischen Schreibens" bilde. Das Augenmerk auf den Zeichen ist keine intellektuelle Fingerübung, keine gesellschaftliche Indifferenz, sondern die unhintergehbare Voraussetzung für Fragen der Ethik und Politik. Wo dieses Augenmerk ignoriert wird, wo es um die reine Destillation von Inhalten geht, über die Zeiten und Kulturen hinweg, beginnt das Reich der Ideologie.
* https://www.zeit.de/2000/36/Wen_kuemmert's_wer_spricht_/komplettansicht
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