"[...] Das alles hat Konsequenzen für die Verfolgung: Waren bisher die meisten Infektionsketten nachvollziehbar, können neue Fälle bald überall gleichzeitig auftreten, in allen Landkreisen, in allen Altersgruppen. Dann sind die personell schlecht ausgestatteten Gesundheitsämter endgültig damit überfordert, die Quarantäne jeder einzelnen Kontaktperson zu regeln. Viele von ihnen haben schon in der ersten Welle vor dieser Aufgabe kapituliert.
Aber sind wir der zweiten Welle deshalb schutzlos ausgeliefert? Nein. Denn die Verbreitung ist bei genauem Hinsehen nicht homogen, und das kann man sich zunutze machen. Infektionswissenschaftler beobachten eine überraschend ungleiche Verteilung der Infektionshäufigkeit pro Patient. Die Reproduktionszahl R bildet dabei nur einen Durchschnitt ab. Nehmen wir einen R-Wert von zwei als Beispiel, dann infiziert jeder Patient zwei weitere. Allerdings nur im Mittel. In unserem Beispiel stecken neun von zehn Patienten jeweils nur einen anderen an, aber einer der zehn infiziert gleich elf weitere. In der Summe haben dann zehn Patienten zwanzig Folgefälle verursacht. [...]
Die gezielte Eindämmung von Clustern ist anscheinend wichtiger als das Auffinden von Einzelfällen durch breite Testung. Japan gelang es, die erste Welle trotz einer erheblichen Zahl importierter Infektionen ohne einen Lockdown zu beherrschen.
Ich plädiere nun dafür, im Fall der Überlastung nur (oder zumindest vor allem) dann mit behördlichen Maßnahmen auf einen positiven Test zu reagieren, wenn er von einem möglichen Clustermitglied stammt. Die vielen Tests, die die Politik derzeit vorbereitet, werden bald öfter positiv ausfallen und die Gesundheitsämter dann überfordern – schließlich kann man das Virus ja nicht wegtesten, man muss auf positive Tests auch reagieren.
Hier gilt: Der Blick zurück ist wichtiger als der Blick nach vorn. Denn Infektionsfälle werden meist erst mehrere Tage nach dem Auftreten von Symptomen erkannt. Der Patient bekommt Fieber, schläft eine Nacht darüber und geht dann zum Arzt. Erst am Tag darauf erhält er sein Testergebnis. Häufig geht ein weiterer Tag verloren, weil der Patient zögert, der Hausarzt abwiegelt oder das Labor die Proben an einen Subunternehmer weiterschickt. Meist sind also vier oder mehr Tage vergangen, seit der Patient die ersten Symptome verspürte. Zu diesem Zeitpunkt ist er aber kaum noch infektiös. Denn wir wissen inzwischen, dass die infektiöse Phase etwa eine Woche dauert, die ersten zwei Tage liegen dabei vor dem Symptombeginn. Immer noch isolieren manche Gesundheitsämter den erkannten Fall als Erstes, um ihn daran zu hindern, andere zu infizieren. Das ist nicht falsch, es könnte aber genauso gut der Hausarzt übernehmen, der den Patienten begleitet.[...]
Die zweite Welle erfordert nun aber das Mitdenken der gesamten Bevölkerung, der Arbeitgeber und der Politik. Nehmen die Neuinfektionen plötzlich stark zu, brauchen wir einen pragmatischen Weg zum Stopp des Clusterwachstums: ohne Lockdown, dafür mit Restrisiko. Diesen Weg müssen alle verstehen und mittragen, auch durch Befolgen allgemeiner Maßnahmen wie Maskenpflicht und Beschränkung privater Feiern. Der Zeitpunkt für den Krisenmodus kann regional variieren.
Im besten Fall brauchen wir ihn nicht."
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