"Wie lebt es sich denn damit Frau Wagenknecht, außer einer sehr kleinen Minderheit der Kommunistischen Plattform in der PDS, eine Dissidentin zu sein? Öffentlich bespöttelt, gelegentlich verhöhnt, manchmal verfemt - wie lebt es sich damit, eine Dissidentin zu sein?
Wagenknecht:
Also, ich kann damit eigentlich leben, weil ich das Gefühl habe, dass ich nicht so eine winzige Minderheit nur repräsentiere. Wenn ich jetzt den Eindruck hätte, dass ich auch insgesamt keine Resonanz bekäme, dass das, was ich vertrete, nur von einem ganz winzigen Kreis von Leuten auch geteilt wird, dann würde das sicher irgendwann auch entmutigen. Aber ich habe sowohl von dem, was ich an Post bekomme, als auch ganz direkten Reaktionen tagsüber in der S-Bahn, wenn ich unterwegs bin, schon das Gefühl, dass gar nicht so wenige Leute ähnlich denken. Also das Gefühl haben, dass es so wie jetzt nicht weitergeht und dass sie nach Auswegen suchen. Und ich denke auch - bezogen auf Vergangenheit - das hat sich ja nun inzwischen auch gezeigt, dass die Leute sich nicht einreden lassen, dass die DDR so war, wie die Bundesrepublik sie darstellen wollte.
Gaus:
Hat sich das verstärkt, dass die Leute sie anreden?
Wagenknecht:
Das hat sich in den letzten vier, fünf Jahren schon deutlich - also gerade ein, zwei Jahren deutlich verstärkt, ja. Also, was ich interessant finde, ist vor allem, dass ich vor allem im letzten Jahr sehr, sehr viel Post von jungen Leuten bekommen habe. Also es war so – sicherlich ich hatte immer Resonanz und ich hatte auch immer Menschen, die mich angesprochen haben, aber dass es vor allem ganz junge Leute sind, dass es Schüler sind, die auch in meine Veranstaltungen kommen, das ist neu. Und das finde ich schon sehr ermutigend.
Gaus:
Wonach fragen die?
Wagenknecht:
Die fragen interessanterweise nicht nur danach, oder nicht primär danach, ob ich jetzt bei der ein oder anderen Steuer meine, dass man die anders machen könnte. Die fragen schon, ob wir grundsätzlich andere Visionen haben, andere Alternativen, andere Gesellschaftsvorstellungen. Also ich war vor kurzem beispielsweise eingeladen bei einem katholischen Mädchengymnasium in Hessen - was sicherlich nicht ein Terrain ist, wo bisher die PDS oder die Linke große Resonanz bekommen hat. Und diese Mädchen haben mich eingeladen, weil sie das, was sie in der Geschichte über Sozialismus, über Kommunismus gelernt haben, nicht befriedigt hat, weil sie da Fragen hatten und die wollten sie mit mir diskutieren. Und das Interessante war, dass bei aller Skepsis, die sie natürlich auch gegenüber den Dingen hatten, die ich gesagt habe, dass wir diese Grundansicht, dass es so wie es jetzt ist, nicht weitergeht, die haben wir geteilt. Und die haben sie mit mir geteilt. Sie wollten halt mit mir darüber reden, welche Vorstellungen, welche Ansichten wir darüber haben. Und was ich natürlich interessant finde, sie laden sich dafür eben nicht jemanden ein aus der SPD, aus der CDU oder aus sonst einer etablierten...
Gaus:
...oder aus der Mehrheit der PDS?
Wagenknecht:
Tja, ganz konkret wollten sie es eben von mir wissen. Und ich denke, dass nach dem Gespräch manche Klischees einfach auch aufgebrochen waren, die vorher vielleicht existierten.
Gaus:
Das heißt - Sie sagen, das ist gar nicht wahr. Das, was ich fragen wollte, ist ein bisschen durch das, was Sie gesagt haben - klingt ein bisschen wie widerlegt. Fragen wollte ich und Sie sagen: ‚Nee, das ist gar nicht so’. Hat die bundesrepublikanische Gesellschaft seit der 68er Bewegung zu wenig Dissidenten?
Wagenknecht:
Also, ich denke, dass sie sicherlich zu wenig Widerspruch hatte – bezogen auf Positionen, die wirklich auch für andere Alternativen standen. Nun war das sicherlich auch durch Kalten Krieg, dadurch, dass es in der DDR eine sehr konkrete Alternative gab, die auch nicht für jeden attraktiv war.
Gaus:
Ich meine die Bundesrepublik jetzt. Die vereinigte Bundesrepublik, den Einheitsstaat. Vorher, vor der Vereinigung war die Dissidentenbewegung die 68er. Meine Frage ist also: Trotz Ihrer Erfahrungen, dass mehr Leute sich kümmern, dass Sie eingeladen werden – bis hin zu katholischen Mädchengymnasien. Was in der Tat nicht das ist, was man erwartet, wenn man über Sie in der Zeitung liest. Dennoch sind es immer noch zu wenig. Nimmt eine Gesellschaft Schaden - nach Ihrer Meinung - wenn sie zu wenig Dissidenten hat?
Wagenknecht:
Ja das kommt darauf an, was man sich von dieser Gesellschaft erwartet. Also die Ökonomie, die Wirtschaft, die Wirtschaftselite, die Wirtschaftslobbys, die nehmen sicherlich keinen Schaden. Die sind sehr zufrieden darüber, dass sie so wenig Widerspruch haben. Aber ich denke, dass natürlich die gesamte Entwicklung, die sich gegenwärtig vollzieht, ja zeigt, dass die große Mehrheit letztlich ja Schaden nimmt - also ganz persönlich, ganz materiell, aber natürlich auch geistig. Also wenn ich mir die gängigen politischen Diskussionen angucke, es ist ja nicht nur, dass ich die Ansichten nicht teile, sondern es ist ja einfach auch vom Niveau unsäglich. Wenn man die üblichen Talkshows betrachtet, wenn man die Art dieser Schlagabtausche – es ist einfach überhaupt nichts mehr, was an Phantasie, was an Kreativität – da ist nichts mehr. Das ist einfach leer, da ist Ödnis. Und ich glaube, dass die Leute schon – dass auch eine Partei, die konsequent bestimmte Fragen aufwirft, die wirklich auch angriffslustig Oppositionsarbeit macht, dass die auch die Chance hat, in diesem Land relativ breiten Rückhalt zu bekommen.
Gaus:
Sind Sie eine geborene Dissidentin, Frau Wagenknecht? Als Sie in der DDR 1988 nach dem Abitur studieren wollten, hat man Ihnen gesagt, Sie sollten zunächst einmal lernen, sich in ein Kollektiv einzufügen. Sind Sie eine geborene Dissidentin?
Wagenknecht:
Ich glaube, geboren wird man dazu nicht. Also, ich würde mir wünschen, in einer Gesellschaft zu leben, wo ich nicht Dissident sein müsste. Ich denke nur, man muss – und vielleicht hat das etwas mit geboren, mit Anlage zu tun – ich würde mich nie verbiegen, wenn die Gesellschaft halt anders ist. Ich denke schon, dass jeder das Bedürfnis hat, lieber in Übereinstimmung mit seiner Umgebung zu leben, als in Kontrast zu ihr. Es ist ja auch viel anstrengender. Es ist auch nicht etwas, was einem in jeder Hinsicht immer besondere Erfolgserlebnisse bringt, wenn man sich gegen sehr viel stellt. Aber ich denke letztlich – also wie gesagt, ich hoffe auch noch mal eine Gesellschaft zu erleben, in der ich nicht Dissident sein muss.
Gaus:
Damit rechnen Sie? Wir kommen darauf, aber ich will an der Stelle schon mal fragen: Sie hoffen, dass Sie noch – Sie sind eine junge Frau, haben also noch eine lange Strecke vor sich, würde ich Ihnen wünschen – Sie denken, Sie kommen noch hin, in dieses gelobte Land, in diese Gesellschaft, die keine Dissidenten mehr hervorbringt? Wir kommen darauf, aber jetzt schon mal gefragt.
Wagenknecht:
Also, Dissidenten in dem Sinne, dass man sich grundsätzlich gegen den Ansatz dieser Gesellschaft stellen muss. Ich glaube, jede Gesellschaft - gerade eine sozialistische Gesellschaft - braucht Leute, die sie kritisch begleiten und muss gerade das auch fördern. Ich denke, dass das auch einer der ganz schlimmen Fehler unserer Geschichte war, dass wir das nicht aufgegriffen haben, nicht als Bereicherung verstanden haben; sondern, dass wir sehr schnell Kritik dann eben auch...
Gaus:
Das wäre meine nächste Frage. Warum ist die DDR als Staat und die SED als Staatspartei mit den Dissidenten in der DDR nicht zurechtkommen?
Wagenknecht:
Also, ich denke, das ist auch immer ein Zeichen von Schwäche. Es war vor allem – ich glaube, dass es auch unterschiedliche Umgehensweisen gab. Es gab in den 60er Jahren - die ich ja nun leider selber nicht erlebt habe, aber das haben mir eigentlich viele erzählt - auch eine Phase, wo das durchaus auch etwas anders gehandhabt wurde. Das ist dann später wirklich wieder in einer Versteinerung versunken. Ich denke, wenn eine Gesellschaft mit Kritikern nicht umgehen kann, ist das immer Schwäche, ist das immer die Angst, nicht mehr argumentieren zu können. Also in dem Augenblick, wo ich repressiv werde, habe ich ja Sorge, nicht mehr mit Argumenten meine Position, meine Politik, meine Grundansichten rechtfertigen zu können. Dann muss ich wegdrücken, was ich nicht will.
Gaus:
Ich habe bei der Vorbereitung auf dieses Interview an ein paar Stellen gelernt, dass Sie Ulbricht für den weitaus Bedeutenderen ansehen als Honecker.
Wagenknecht:
Also, ich glaube, dass er bei bestimmten Fragen – so weit ich mich damit auch historisch beschäftigt habe – wirklich erkannt hat, wo die DDR Veränderungen, neue Weichenstellungen...
Gaus:
...auf wirtschaftlichen...
Wagenknecht:
...auf wirtschaftlichem Gebiet vor allem. Also er hatte ja dieses neue ökonomische System. Er hatte auch sehr frühzeitig erkannt - diese gesamten Fragen der Mikroelektronik, der neuen Entwicklungen, dass die natürlich auch andere ökonomische Mechanismen brauchen. Also, dass diese überzentralisierte Planung, wo der Anspruch erhoben wurde, mit einer Planbehörde im Grunde die gesamte Gesellschaft, das gesamte ökonomische Leben zu dirigieren, dass das nicht funktionieren kann. Dass man die Leute einbeziehen muss, dass die Menschen auch Anreize haben müssen, dass sie kreativ sein müssen. Und das ist leider Gottes danach sehr abgewürgt worden.
Gaus:
Weil es nicht genügend Motivation gab, mangels Profit.
Wagenknecht:
Also, das halte ich eben auch für einen Grundirrtum - auch dieser heutigen Gesellschaft - dass Profit der einzige oder auch der wichtigste Motor von Motivation ist. Ich denke, Menschen sind ja vor allem motiviert, wenn sie ganz persönlich dann auch Anerkennung bekommen - sicherlich auch materielle Anreize. [...]
Wagenknecht:
Also, wenn ich das nicht hoffen würde und auch das Gefühl hätte, dass gar nicht so wenige Menschen natürlich darüber nachdenken, über Alternativen, dann würde ich das alles nicht machen. Und ich glaube schon – auch das was jeder täglich erlebt, wie diese Gesellschaft, mit welcher Hemmungslosigkeit sie auch Leute ins soziale Nichts schleudert, mit welcher Hemmungslosigkeit sie wirklich auf der einen Seite unglaublichen Reichtum produziert und sozusagen dort noch verstärkt, währenddessen im anderen Bereich also immer mehr Leute schlicht und ergreifend nicht mehr wissen, wie sie ihren Lebensunterhalt finanzieren sollen. Da ist doch völlig klar, dass das auch irgendwann eine Auflehnung geben wird und dass sich Leute dagegen auch wehren werden.
Gaus:
Woran liegt das? Dass das so gut wie immer nur eine Minderheitenposition ist - diese Einsicht in bestimmte soziale Verwerfungen und Niederbrüche in dieser an sich reichen Gesellschaft. Neigen die Menschen - so wie Sie die Menschen sehen, wie Sie sie bisher sehen - neigen die Menschen dazu, lange Zeit die Augen zu schließen?
Wagenknecht:
Ich glaube nicht, dass es nur die Frage ist, ob sie die Augen schließen. Ich denke, das Grundproblem ist, dass viele keinen Ausweg sehen. Also wenn ich mit Leuten diskutiere und sie auch frage, warum sie sich nicht in irgendeiner Form - das muss ja nicht in einer Partei sein - in irgendeiner Form engagieren, dann ist eigentlich das Argument, das ich höre ganz selten, dass die Leute mir sagen: ‚Na ja insgesamt ist ja diese Gesellschaft ganz vertretbar und wir können damit gut leben’. Sondern - ich denke, was ich höre, ist in der Regel: ‚Ja, wir können ja nichts machen’. Das heißt, man hat den Leuten eingeredet - und das ist ja so eine Grundbotschaft - sie sind ohnmächtig, sie können nichts machen, sie können sich nicht wehren. Ich glaube, dass das die Haupthürde ist, die man aufbrechen muss. Also, dass man deutlich macht, die Menschen können was ändern. Wenn sich viele Leute wehren, dann ist auch ein Druckpotential da, das natürlich Politik beeinflusst. Und so sind ja auch historisch diesem Kapitalismus alle sozialen Rechte abgerungen worden, von denen er sich zur Zeit wieder befreit. Das war ja nichts, was als Großzügigkeit irgendwann zugestanden wurde. Also angefangen von Bismarck war es immer die Drohung - damals noch einer wirklich revolutionären Sozialdemokratie - die Drohung, dass dann sozusagen ja Widerstandbewegungen stärker werden, die dazu geführt hat, dass man bestimmte soziale Rechte letztlich dann doch umgesetzt hat.
Gaus:
Sind wir möglicherweise in einer Situation, in der die Manipulationsmöglichkeiten so groß geworden sind, dass die Schafsgeduld fast unendlich geworden ist? In der DDR haben manche nachdenkliche Leute gesagt – ich glaube, Loest hat das auch in einem Buchtitel verwendet – dass die Schafe zu geduldig sind. Haben wir zuviel Schafsgeduld in der jetzigen Bundesrepublik?
Wagenknecht:
Na ja ich würde sagen, ich würde es nicht als Schafsgeduld bezeichnen, weil das ja – es widerstrebt mir einfach, die Leute für schafsgeduldig zu halten, die lediglich aus dem Grunde, weil sie nicht sehen, was sie machen können, weil sie nicht sehen, welche Alternativen es gäbe, welche Möglichkeiten es gäbe, sich nicht wehren. Ich glaube, dass das mehr eine Verantwortung auch ist, wo sich linke Parteien oder konkret auch die linke Partei, der ich ja angehöre, sich fragen muss, weshalb sie es nicht besser als bisher geschafft hat, Menschen zu motivieren, sich zu wehren. Gaus:
Also, wann immer ich in diesen Jahren in der Reihe ‚Zur Person’ seit der Wende einen bekennenden oder eine bekennende Sozialistin oder Kommunisten vor der Kamera oder am Mikrophon hatte, habe ich immer gefragt: ‚Glauben Sie an den neuen Menschen?’ Oder: ‚Glauben Sie tatsächlich der alte Adam und die alte Eva können das leisten, was sie - was die kommunistische Idee leisten will? Oder muss man dafür einen neuen Menschen haben?’ Glauben Sie an einen neuen Menschen?
Wagenknecht:
Also, ich glaube, der Mensch war immer sehr, sehr unterschiedlich - je nachdem auch wie die Verhältnisse waren. Und insofern glaube ich nicht unbedingt an einen neuen Menschen. Also, Menschen - es waren immer Menschen, die einerseits die wunderschönsten Gemälde, die wunderschönsten Gedichte geschrieben haben und die die grauenvollsten Verbrechen begangen haben. Und ich glaube, dass sehr die Frage ist, welche Seiten eines Menschen die Gesellschaft fördert, welche sie heraufbeschwört. Und die heutige Gesellschaft ist natürlich von ihrer gesamten Struktur so beschaffen, dass sie gerade dieses Egoistische und gerade dieses Ignorante im Menschen richtig reproduziert, richtig hervorruft, weil der Einzelne natürlich sehen muss, dass er selber überlebt und dann natürlich dem ein oder anderen egal ist, was dem Menschen neben ihm passiert.
Gaus:
Mein Eindruck bei der Beobachtung - der privilegierten Beobachtung natürlich - der DDR war, dass die Menschen auch im System der DDR ziemlich gewinnorientiert waren. ‚Freitag um eins macht jeder seins’. Und insofern bleibt meine Frage: Ist die kommunistische Idee - die ohne Frage zu den wichtigen Grundphilosophien über menschliches Zusammenleben im Abendland gehört - geht sie deswegen immer zugrunde, weil sie einen neuen Menschen voraussetzt, den es nie geben wird?
Wagenknecht:
Also, ich denke auch nicht, dass Sozialismus den vollkommen altruistischen Menschen voraussetzt, sondern im Gegenteil. Natürlich, das war auch ein Problem in der Vergangenheit - oder des ökonomischen Systems, das wir in der DDR hatten. Ich glaube, dass auch eine sozialistische Wirtschaftsordnung bestimmte Anreize setzen muss. Also, dass sie schon Menschen auch – allerdings nicht unter diese Wolfsgesetze bringt, die heute im Grunde bedeuten: Entweder du setzt dich durch, oder du gehst unter - sondern, dass aber trotzdem ein Anreiz da sein muss, der belohnt, wenn sich einer besonders engagiert. Das ist sicherlich schon auch in sozialistischen Betrieben, in öffentlichen Betrieben machbar und sinnvoll. Nur ich glaube nicht daran, dass der Mensch tatsächlich diesen unglaublichen Druck braucht. Sondern im Gegenteil - ich glaube, dass der auch Menschen kaputt macht, der heute im Grunde existiert, wo ich mich entweder tot arbeite oder aber ganz rausfalle und gar nicht sozusagen diesen Mittelweg, der kaum begehbar ist, kaum beschreibbar ist für den Einzelnen.
Gaus:
Ein Problem ist doch, selbst theoretisch, wenn ich es recht weiß, von der sozialistischen Gesellschaft, der kommunistischen Gesellschaft, auf dem Wege zu ihr hin, nie konkret gelöst worden. Nämlich - wie kontrolliert man die Macht und wie kann man die Macht auswechseln? Haben Sie darauf eine Antwort? [...]
Gaus:
Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Was erheitert Sie dann und wann? Bei was können Sie mal entspannen?
Wagenknecht:
Also, entspannen – wenn ich wandere, wenn ich lese, wenn ich - was leider viel zu selten noch möglich ist - aber zum Beispiel nach wie vor liebend gern noch Shakespeare und Goethe lese. Das bringt auch unglaublichen Abstand. Also gerade Shakespeare - wenn man irgendwie gerade so irgendwelche Intrigen und irgendwelche politischen Kämpfe hinter sich hat und liest ein Shakespeare-Drama geht man mit all dem gelassener um. Man weiß natürlich auch, dass es nicht neu ist, solche Auseinandersetzungen zu führen. Und das, ja ermutigt dann auch irgendwo, weiter zu machen."
Das wäre meine nächste Frage. Warum ist die DDR als Staat und die SED als Staatspartei mit den Dissidenten in der DDR nicht zurechtkommen?
Wagenknecht:
Also, ich denke, das ist auch immer ein Zeichen von Schwäche. Es war vor allem – ich glaube, dass es auch unterschiedliche Umgehensweisen gab. Es gab in den 60er Jahren - die ich ja nun leider selber nicht erlebt habe, aber das haben mir eigentlich viele erzählt - auch eine Phase, wo das durchaus auch etwas anders gehandhabt wurde. Das ist dann später wirklich wieder in einer Versteinerung versunken. Ich denke, wenn eine Gesellschaft mit Kritikern nicht umgehen kann, ist das immer Schwäche, ist das immer die Angst, nicht mehr argumentieren zu können. Also in dem Augenblick, wo ich repressiv werde, habe ich ja Sorge, nicht mehr mit Argumenten meine Position, meine Politik, meine Grundansichten rechtfertigen zu können. Dann muss ich wegdrücken, was ich nicht will.
Gaus:
Ich habe bei der Vorbereitung auf dieses Interview an ein paar Stellen gelernt, dass Sie Ulbricht für den weitaus Bedeutenderen ansehen als Honecker.
Wagenknecht:
Also, ich glaube, dass er bei bestimmten Fragen – so weit ich mich damit auch historisch beschäftigt habe – wirklich erkannt hat, wo die DDR Veränderungen, neue Weichenstellungen...
Gaus:
...auf wirtschaftlichen...
Wagenknecht:
...auf wirtschaftlichem Gebiet vor allem. Also er hatte ja dieses neue ökonomische System. Er hatte auch sehr frühzeitig erkannt - diese gesamten Fragen der Mikroelektronik, der neuen Entwicklungen, dass die natürlich auch andere ökonomische Mechanismen brauchen. Also, dass diese überzentralisierte Planung, wo der Anspruch erhoben wurde, mit einer Planbehörde im Grunde die gesamte Gesellschaft, das gesamte ökonomische Leben zu dirigieren, dass das nicht funktionieren kann. Dass man die Leute einbeziehen muss, dass die Menschen auch Anreize haben müssen, dass sie kreativ sein müssen. Und das ist leider Gottes danach sehr abgewürgt worden.
Gaus:
Weil es nicht genügend Motivation gab, mangels Profit.
Wagenknecht:
Also, das halte ich eben auch für einen Grundirrtum - auch dieser heutigen Gesellschaft - dass Profit der einzige oder auch der wichtigste Motor von Motivation ist. Ich denke, Menschen sind ja vor allem motiviert, wenn sie ganz persönlich dann auch Anerkennung bekommen - sicherlich auch materielle Anreize. [...]
Wagenknecht:
Also, wenn ich das nicht hoffen würde und auch das Gefühl hätte, dass gar nicht so wenige Menschen natürlich darüber nachdenken, über Alternativen, dann würde ich das alles nicht machen. Und ich glaube schon – auch das was jeder täglich erlebt, wie diese Gesellschaft, mit welcher Hemmungslosigkeit sie auch Leute ins soziale Nichts schleudert, mit welcher Hemmungslosigkeit sie wirklich auf der einen Seite unglaublichen Reichtum produziert und sozusagen dort noch verstärkt, währenddessen im anderen Bereich also immer mehr Leute schlicht und ergreifend nicht mehr wissen, wie sie ihren Lebensunterhalt finanzieren sollen. Da ist doch völlig klar, dass das auch irgendwann eine Auflehnung geben wird und dass sich Leute dagegen auch wehren werden.
Gaus:
Woran liegt das? Dass das so gut wie immer nur eine Minderheitenposition ist - diese Einsicht in bestimmte soziale Verwerfungen und Niederbrüche in dieser an sich reichen Gesellschaft. Neigen die Menschen - so wie Sie die Menschen sehen, wie Sie sie bisher sehen - neigen die Menschen dazu, lange Zeit die Augen zu schließen?
Wagenknecht:
Ich glaube nicht, dass es nur die Frage ist, ob sie die Augen schließen. Ich denke, das Grundproblem ist, dass viele keinen Ausweg sehen. Also wenn ich mit Leuten diskutiere und sie auch frage, warum sie sich nicht in irgendeiner Form - das muss ja nicht in einer Partei sein - in irgendeiner Form engagieren, dann ist eigentlich das Argument, das ich höre ganz selten, dass die Leute mir sagen: ‚Na ja insgesamt ist ja diese Gesellschaft ganz vertretbar und wir können damit gut leben’. Sondern - ich denke, was ich höre, ist in der Regel: ‚Ja, wir können ja nichts machen’. Das heißt, man hat den Leuten eingeredet - und das ist ja so eine Grundbotschaft - sie sind ohnmächtig, sie können nichts machen, sie können sich nicht wehren. Ich glaube, dass das die Haupthürde ist, die man aufbrechen muss. Also, dass man deutlich macht, die Menschen können was ändern. Wenn sich viele Leute wehren, dann ist auch ein Druckpotential da, das natürlich Politik beeinflusst. Und so sind ja auch historisch diesem Kapitalismus alle sozialen Rechte abgerungen worden, von denen er sich zur Zeit wieder befreit. Das war ja nichts, was als Großzügigkeit irgendwann zugestanden wurde. Also angefangen von Bismarck war es immer die Drohung - damals noch einer wirklich revolutionären Sozialdemokratie - die Drohung, dass dann sozusagen ja Widerstandbewegungen stärker werden, die dazu geführt hat, dass man bestimmte soziale Rechte letztlich dann doch umgesetzt hat.
Gaus:
Sind wir möglicherweise in einer Situation, in der die Manipulationsmöglichkeiten so groß geworden sind, dass die Schafsgeduld fast unendlich geworden ist? In der DDR haben manche nachdenkliche Leute gesagt – ich glaube, Loest hat das auch in einem Buchtitel verwendet – dass die Schafe zu geduldig sind. Haben wir zuviel Schafsgeduld in der jetzigen Bundesrepublik?
Wagenknecht:
Na ja ich würde sagen, ich würde es nicht als Schafsgeduld bezeichnen, weil das ja – es widerstrebt mir einfach, die Leute für schafsgeduldig zu halten, die lediglich aus dem Grunde, weil sie nicht sehen, was sie machen können, weil sie nicht sehen, welche Alternativen es gäbe, welche Möglichkeiten es gäbe, sich nicht wehren. Ich glaube, dass das mehr eine Verantwortung auch ist, wo sich linke Parteien oder konkret auch die linke Partei, der ich ja angehöre, sich fragen muss, weshalb sie es nicht besser als bisher geschafft hat, Menschen zu motivieren, sich zu wehren. Gaus:
Also, wann immer ich in diesen Jahren in der Reihe ‚Zur Person’ seit der Wende einen bekennenden oder eine bekennende Sozialistin oder Kommunisten vor der Kamera oder am Mikrophon hatte, habe ich immer gefragt: ‚Glauben Sie an den neuen Menschen?’ Oder: ‚Glauben Sie tatsächlich der alte Adam und die alte Eva können das leisten, was sie - was die kommunistische Idee leisten will? Oder muss man dafür einen neuen Menschen haben?’ Glauben Sie an einen neuen Menschen?
Wagenknecht:
Also, ich glaube, der Mensch war immer sehr, sehr unterschiedlich - je nachdem auch wie die Verhältnisse waren. Und insofern glaube ich nicht unbedingt an einen neuen Menschen. Also, Menschen - es waren immer Menschen, die einerseits die wunderschönsten Gemälde, die wunderschönsten Gedichte geschrieben haben und die die grauenvollsten Verbrechen begangen haben. Und ich glaube, dass sehr die Frage ist, welche Seiten eines Menschen die Gesellschaft fördert, welche sie heraufbeschwört. Und die heutige Gesellschaft ist natürlich von ihrer gesamten Struktur so beschaffen, dass sie gerade dieses Egoistische und gerade dieses Ignorante im Menschen richtig reproduziert, richtig hervorruft, weil der Einzelne natürlich sehen muss, dass er selber überlebt und dann natürlich dem ein oder anderen egal ist, was dem Menschen neben ihm passiert.
Gaus:
Mein Eindruck bei der Beobachtung - der privilegierten Beobachtung natürlich - der DDR war, dass die Menschen auch im System der DDR ziemlich gewinnorientiert waren. ‚Freitag um eins macht jeder seins’. Und insofern bleibt meine Frage: Ist die kommunistische Idee - die ohne Frage zu den wichtigen Grundphilosophien über menschliches Zusammenleben im Abendland gehört - geht sie deswegen immer zugrunde, weil sie einen neuen Menschen voraussetzt, den es nie geben wird?
Wagenknecht:
Also, ich denke auch nicht, dass Sozialismus den vollkommen altruistischen Menschen voraussetzt, sondern im Gegenteil. Natürlich, das war auch ein Problem in der Vergangenheit - oder des ökonomischen Systems, das wir in der DDR hatten. Ich glaube, dass auch eine sozialistische Wirtschaftsordnung bestimmte Anreize setzen muss. Also, dass sie schon Menschen auch – allerdings nicht unter diese Wolfsgesetze bringt, die heute im Grunde bedeuten: Entweder du setzt dich durch, oder du gehst unter - sondern, dass aber trotzdem ein Anreiz da sein muss, der belohnt, wenn sich einer besonders engagiert. Das ist sicherlich schon auch in sozialistischen Betrieben, in öffentlichen Betrieben machbar und sinnvoll. Nur ich glaube nicht daran, dass der Mensch tatsächlich diesen unglaublichen Druck braucht. Sondern im Gegenteil - ich glaube, dass der auch Menschen kaputt macht, der heute im Grunde existiert, wo ich mich entweder tot arbeite oder aber ganz rausfalle und gar nicht sozusagen diesen Mittelweg, der kaum begehbar ist, kaum beschreibbar ist für den Einzelnen.
Gaus:
Ein Problem ist doch, selbst theoretisch, wenn ich es recht weiß, von der sozialistischen Gesellschaft, der kommunistischen Gesellschaft, auf dem Wege zu ihr hin, nie konkret gelöst worden. Nämlich - wie kontrolliert man die Macht und wie kann man die Macht auswechseln? Haben Sie darauf eine Antwort? [...]
Gaus:
Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Was erheitert Sie dann und wann? Bei was können Sie mal entspannen?
Wagenknecht:
Also, entspannen – wenn ich wandere, wenn ich lese, wenn ich - was leider viel zu selten noch möglich ist - aber zum Beispiel nach wie vor liebend gern noch Shakespeare und Goethe lese. Das bringt auch unglaublichen Abstand. Also gerade Shakespeare - wenn man irgendwie gerade so irgendwelche Intrigen und irgendwelche politischen Kämpfe hinter sich hat und liest ein Shakespeare-Drama geht man mit all dem gelassener um. Man weiß natürlich auch, dass es nicht neu ist, solche Auseinandersetzungen zu führen. Und das, ja ermutigt dann auch irgendwo, weiter zu machen."
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