Dienstag, 2. April 2019

Martin Lindner: Die Bildung und das Netz: Content-Web und Live-Web

Lindner beobachtet eine Entwicklung vom Content-Web zum Live-Web, in dem alles vorüber fließt: "Alles, was wichtig ist, kommt einmal vorbei".

Er unterstellt dabei, dass das Content-Web nicht mehr von Bedeutung wäre. Ich denke aber, dass sich nur das Schwergewicht innerhalb des Lebenszyklus des Inhalts verschoben hat. Während es früher darum ging, Inhalte bekannt zu machen, steht jetzt die Kommunikation im Vordergrund. Aber nicht ohne Grund aber heißt es: "Das Internet vergisst nichts". Auch die größte Nichtigkeit (Content) kann wieder ans Tageslicht gezogen werden, während andererseits das Wichtige vorbeifließt, also nicht wahrgenommen wird, wenn es nicht ständig wiederholt wird.
Andererseits gibt es sehr wohl Inhalte, die von Institutionen dauerhaft dokumentiert werden, und andere, die nach kurzem Auftauchen für den Normalbürger unauffindbar werden, weil sie aus dem Netz genommen werden. Letzteres geschieht ständig durch das Abschalten von Webseiten, aber auch unauffälliger durch virtuelles "Schreddern" durch Institutionen.

Das Netz vergisst insofern ständig, ganz abgesehen davon, dass auch die Archivierung im Netz nur von relativ kurzer Dauer ist und schwerlich Jahrtausende überdauern wird. Deshalb ist in der Tat das Projekt Memory of Mankind der Gegenpol des Live Web.
Andererseits dient ein Großteil der Kommunikation dem Hinweisen auf Inhalte, seien es an sich nichtige, die aber einen Shitstorm auslösen können oder fundierte, dauerhafte wissenschaftliche Ergebnisse, die sich so viel schneller verbreiten, oder Tagesnachrichten, die in der Wikipedia in umfassende Darstellungen eingeordnet werden und damit einem längerfristigen Zugriff zur Verfügung stehen.

Was mir bei Lindner gut gefällt, ist seine Unterscheidung zwischen dem rauen Informationsnetz, in dem man Informationen sucht, und dem "verfetteten", auf  "Hochglanz polierten" Netz, das zeigt und anbietet.
Ich persönlich bedaure, dass Twitter, das Lindner noch als Beispiel für die modularisierten Informationsbruchstücke anführt, mit der Aufnahme von Bildern und Videos den Weg zum "verfetteten" Netz geht. (Die Erweiterung auf 280 statt 140 Zeichen scheint dagegen keinen negativen Effekt zu haben. Die Formulierungen werden freier und andererseits wird offenbar nicht mehr versucht, möglichst viel in einen Tweet zu pressen.)

aktuell dazu:
Harris: Wie Technologie unseren Geist manipuliert (übersetzt von Bob Blume)
"[...]  Wenn man einmal weiß, auf welche Knöpfe man bei Menschen drücken muss, kann man auf ihnen spielen, wie auf einem Klavier. Und das ist exakt was Produktdesigner unserem Geist antun. Sie spielen auf euren psychischen Schwächen, bewusst und unbewusst, um eure Aufmerksamkeit zu erlangen. Auch gegen euren Willen. Man könnte sagen, sie entführen bzw. kapern euren Geist – und damit euch. Ich will euch zeigen, wie sie das tun. [...]
Je mehr Entscheidungen Technologie für nahezu jede Dimension unseres alltäglichen Lebens bereithält (Informationen, Events, Orte, an die man geht, Freunde, Dates, Jobs), desto mehr nehmen wir an, dass unser Telefon das nützlichste Menü bereithält, aus dem wir auswählen können. [...]
Aber je mehr wir darauf achten, welche Optionen uns vorgesetzt werden, desto mehr werden wir wahrnehmen, was gar nicht zu unseren eigentlichen Bedürfnissen passt.
[... Smartphones funktionieren wie Glückspielautomaten, weil sie in ungleichen Abständen Belohnungen verschaffen. Dadurch machen sie von sich abhängig. Das könnten die Internetanbieter verhindern. ] Zum Beispiel könnten sie Leute dazu befähigen, Zeiten festzulegen, in denen man die Glücksspielautomaten-Apps checkt und eben auch, dass die neu ankommenden Nachrichten sich an diese Zeiten halten.
[Es folgen viele Beispiele von zeitraubenden Manipulationen*, an die wir uns im Netz schon wie an Selbstverständliches gewöhnt haben.]
Die Zeit der Menschen ist wertvoll. Und wir sollten sie mit derselben Energie beschützen wir es mit der Privatsphäre und den digitalen Rechten tun. "
[Hervorhebungen betreffen Passagen oder Wörter, wo ich von Bob Blumes Übersetzung abweiche.]


*Manipilationsansätze: Die Angst, etwas Wichtiges zu verpassen - Soziale Wertschätzung - Soziale Gegenseitigkeit - Fässer ohne Boden, unendliche Feeds und Autoplay -
Sofortige Unterbrechungen vs. „respektvolle“ Lieferung - Deine Gründe mit ihren Gründen bündeln -Unangenehme Entscheidungen - Vorausschaufehler, „Fuß in der Tür“-Strategien

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