Sonntag, 28. April 2019

Lindner zu Guerilla-Lernen

Lindner meint, dass das Lernen in Institutionen und in vorgegebenen Lernschritten in der jetzigen sich rapide ändernden Welt unangemessen sei.
Folglich nennt er das jetzt notwendige neue Lernen im Netz in Analogie zum Guerillakrieg mit ständig wechselnden Kampfsituationen "Guerilla-Lernen".
Die dafür notwendigen Fähigkeiten entwickelt er anhand der Arbeiten von Rheingold über "Digital Literacy" (dafür erfindet Lindner das neue deutsche Wort: Literanz)
Rheingold unterscheidet fünf Schlüsselkompetenzen: "Man muss die eigene Aufmerksamkeit und Konzentration managen. Man muss Bullshit schnell erkennen können. Man muss sich aktiv beteiligen können an den Web-Kommunikationen und Web-Wissensprozessen. Man muss lernen, im Web mit anderen zusammenzuarbeiten. Und schließlich muss man verstehen, wie die Vernetzung auch im Offline-Leben die gewohnten Verhältnisse verändert – sozial, geistig-kulturell und wirtschaftlich. [...]

Am nützlichsten für Guerilla -LernerInnen sind vielleicht seine Bemerkungen zur Aufmerksamkeit. Rheingold leitet dazu an, ruhig und konzentriert mit dem Internet umzugehen – achtsam, nicht hastig und getrieben. In seinem Kursplan sind auch Links zu einfachen Meditationsübungen. [...]"
Man muss fähig sein, seine Aufmerksamkeit zu teilen: "So ist das auch im Netz; es gibt keinen Tunnelblick, und es geschehen immer viele Dinge gleichzeitig. Um nicht von den Ablenkungen hin- und hergeworfen zu werden, muss man also quasi einen zerstreuten, halbaufmerksamen Blick aus den Augenwinkeln trainieren, mit dem man immer vieles gleichzeitig erfasst. [...] Man muss lernen, an den richtigen Stellen quasi hinein- und wieder hinauszuzoomen. Dazu gehört auch, zwischen mehreren Apps oder auch zwischen mehreren digitalen Bildschirmen und Geräten zu wechseln."

Weiterhin empfiehlt Lindner: David Allen: Getting Things done. The Art of Stress-Free Productivity (2001; deutsch: Wie ich die Dinge geregelt kriege. Selbstmanagement für den Alltag): 
"Allen leitet dazu an, auch kleinere Aktivitäten als persönliche Projekte zu betrachten. Als Projekt bezeichnet Allan alles, was sich nicht auf einen Blick übersehen lässt, weil es über länger als zwei Tage erstreckt oder in mehr als drei Schritten abgearbeitet werden muss. Alles, was an Anforderungen täglich herein kommt, wird in kleine Next Actionable Steps zerlegt: Das sind Aktionen, die man jetzt und sofort in einem Zug erledigen kann. Also etwa ein Einkauf, ein Telefonanruf, eine E-Mail, eine Google-Recherche, um eine ganz konkrete Frage zu klären, und so weiter. [...]
Ein alternatives Konzept von digitaler Literanz hat Doug Belshaw für Mozilla Education entwickelt. [...] Belshaw hat acht Zutaten der Digital Literacy destilliert, aus denen man die eigene Diät zusammenstellen soll. [...] Hier sind die im Überblick: Kritisch Denken entspricht ungefähr dem, was Rheingold "Bullshit-Erkennung" nennt. Hier geht es darum, Machtverhältnisse zu erkennen, mit Fragen wie: Für wen ist dieses digitale Angebote hier gedacht? Worin besteht der Nutzen für die Anbieter? Wer ist hier ausgeschlossen, und wer wird hier privilegiert? Welche unterschwelligen Annahmen werden hier transportiert? Wo liegen die Gefahren? Das hat alles sehr viel mit Text-Kompetenz zu tun sagt Belshaw.
Kreativ ist hier konkreter gefasst als der geläufige Wischiwaschi-Begriff: Es geht nicht einfach darum, sich auszudrücken, sondern darum, neue Dinge auf neue Art zu tun, um etwas zu erzeugen, was für jemand praktischen Wert hat. Das heißt, man muss vorher geeignete Probleme überhaupt erst finden, die man dann in einem eigenen kreativen Projekt bearbeiten kann. [...] Immer geht es um das Machen, um das Herstellen von Objekten.
Damit hängt für Belshaw Kommunikation und Kollaboration direkt zusammen. Unter Communicative versteht er, dass man sich gemeinsam auf ein konkretes Objekt bezieht, das man gestaltet. [...] Das kann auch durch einen Blogpost geschehen, der etwas auf den Begriff bringen, das man vorher selbst nicht verstanden hat. Darüber tauscht man sich dann auch im Netz aus. Das Objekt wird so zum "sozialen Objekt“. Auch Grafiken oder Fotos sind gute Beispiele dafür. Visuelle Kommunikation ist im Netz eine wichtige Fähigkeit. Das muss und soll gar nicht große Kunst sein. Auch ein erhellendes Foto, das man irgendwo findet und mit einer witzigen Unterschrift* versieht, [...] ist bereits ein soziales Objekt. [...]
[*Ob Belshaw so etwas oder auch so etwas unter "erhellend" versteht? Und dies oder eher das?]
Construktive bedeutet bei Belshaw, digitale Texte und Medieninhalte konstruieren und rekonstruieren zu können. Auch Empfänger von fremden Inhalten haben im Netz eine viel aktivere Rolle als früher. Der erste Schritt ist immer das Kopieren. Copy and Paste ist die allererste digitale Technik, die man lernen muss. Wenn man etwas interessant oder anregend findet, schneidet man es aus und sammelt es. Dann kann man das Material in eigene Zusammenhänge bringen, verformen und verändern. Digitales Konstruieren ist dabei viel leichter und risikoloser als im nicht-digitalen Raum, weil man jeden Schritt mit einem Klick rückgängig machen kann.
Cognitive meint Denkwerkzeuge und Denkgewohnheiten. Das erste kognitive Werkzeug ist das jeweilige Netz-Gerät selbst, das Smartphone oder der PC. Dazu kommen eine Vielzahl von Tools und Apps, die alle bestimmte Arten zu denken begünstigen, von der Mind Map bis zum Tagging. Zu Cognitive gehört es für Belshaw, diese Werkzeuge auszuprobieren, mit ihnen herumzuspielen, die für sich geeignetsten auszuwählen und andere zu verwerfen. Aber auch Rheingolds Achtsamkeitstechniken sind in diesem Sinne kognitiv.
Cultures heißt kulturelles Wissen und kulturelle Geläufigkeit. Die Mehrzahl ist wichtig. Man erwirbt diesen Teil von Literanz am besten, wenn man in viele digitale Umwelten für jeweils einige Zeit eintaucht. Belshaw meint hier so etwas Ähnliches wie die Minerva-Hochschule, die ihre Studierenden jedes Semester in eine andere Metropole schickt. Im Prinzip kann das jede/r im Netz selbst machen. Man erkennt den eigenen Fortschritt, sagt Belshaw, wenn man immer schneller und bruchloser zwischen verschiedenen Digitalkulturen wechseln kann.
Confident steht für Selbstsicherheit, elastische Widerstandsfähigkeit und Beharrungsvermögen. Am Anfang sind alle Leute sehr unsicher, die es in digitale Umwelten verschlägt. Man weiß nicht, welcher Klick was bewirkt und welche Tastenkombination eine Abkürzung ist, die viel Zeit und Nerven spart. Mit komplexeren Kenntnissen ist es ähnlich. Man lernt es, sag Belshaw, in dem man Probleme löst und sein Lernen als eigenes, selbstgesteuertes Projekt versteht. Da braucht man mehr als nur die Tricks aus Getting Things done. Vor allem hilft das Feedback von Peers und Mentoren. Man braucht persönliche Lern-Netzwerke und im Idealfall auch eine Community, eine Online-Gemeinschaft von Gleichgesetzten, in der man sich anfeuert und hilft.
Der achte und letzte Bereich, aus dem sich Belshaws digitale Literanz speist, ist Civic. Das meint "zivil" im Sinne von "Zivilgesellschaft": das Feld außerhalb der festgefügten Institutionen, wo sich Leute mit gemeinsamen Interessen treffen, austauschen und zusammenschließen. Draußen in der analogen Welt kann das ein Café sein, ein Co-WorkingSpace, ein selbst organisiertes Barcamp oder ein FabLab für Digitalbastler. Aber es könnte auch eine Volkshochschulgruppe sein, in der man kunstvolle Decken bestickt und dann auf dem Flohmarkt oder auf der Kunsthandwerk-Netzplattform etsy anbietet. [...] digitale Zivilgesellschaft, die sich der Diktatur widersetzt. Aber natürlich gehören zu civic alle Arten von Web-Inhalten und Lebenszeichen.* [...]
Was könnte es den durchschnittlichen Guerilla-LernerInnen nützen, mit Code und Software Entwicklung grundsätzlich vertraut zu sein? Darauf gibt es drei Antworten: Informatisch denken lernen, Web Literacy und die Fähigkeit zur digitalen Kollaboration.

Informatisch denken lernen ist nicht dasselbe wie "Informatik-Wissen" erwerben. Es geht darum, die innere Logik von Software-gesteuerten Prozessen besser verstehen zu lernen. Das sei auch für die Allgemeinbildung von Bedeutung, sagt Beat Döbeli Honegger, der selbst Informatiker und Professor an einer pädagogischen Hochschule ist. Letztlich geht es um Systemdenken, "das modellierende, vernetzte Denken, um Systeme der Wirklichkeit zu beschreiben zu simulieren und zu verstehen". Ich stimme dem zu, konzentriere mich im folgenden aber auf die Schnittmenge mit Web Literacy. [...]
Im schulischen Informatikunterricht programmieren die SchülerInnen üblicherweise entweder kleine Roboter oder Sensorenschaltungen (das soll auf industrielle Ingenieurstätigkeit vorbereiten) oder es werden Grundkenntnisse in Office-Programmen vermittelt (das soll auf Bürotätigkeiten vorbereiten). Das Web kommt in der Regel zu kurz, dabei ist gerade hier die wichtigste Schnittstelle zwischen Kulturwelt und Datenwelt. Alle 'weichen' digitalen Literanzen haben irgendwie mit dem Web zu tun. Für die Nonprofit-Firma Mozilla, die unter anderem den Open Source-Browser Firefox entwickelt, hat ein Team, zu dem auch nach Belshow gehörte, ein sehr sinnvolles Curriculum für code-bezogene Webkompetenzen ausgearbeitet.
Auf eine interaktiven Webseite sieht man dort alles auf einen Blick und kann auf einzelne Kompetenzen klicken. Dann findet man nicht nur einfache Erklärungen, sondern bekommt kleine Werkzeuge zur Verfügung gestellt, um diese Kompetenzen im kleinen praktischen Projekten spielerisch zu entwickeln. Diese Mozilla-Seite ist vorbildlich. Man könnte sie ohne großen Aufwand ins Deutsche übertragen. Eigentlich sollte das in allen Schulen benutzt werden, aber anscheinend macht das kaum jemand. Es ist kaum zu verstehen, warum nicht Mozilla und auch Wikimedia nicht privilegierte Partner der Schulen sind, wenn es um Iinformatorische Bildung geht. Aber in den unzähligen deutschen MINT-Programmen spielen das Web und die Web Literacy bislang kaum eine Rolle. [...]

Damit ist die dritte wichtige
Web Literacy-Komponente angesprochen, die im weiteren Sinn mit dem Coden und der Informatik zusammenhängt. Es geht darum, eigene Fähigkeiten zu entwickeln, die in gemischten Teams brauchbar und anschlussfähig sind. Auch hier werden viele Fähigkeiten gebraucht, die kaum mit einem tieferen Verständnis von Code und Informatik zu tun haben – organisieren, präsentieren, recherchieren, kommunizieren, texten, kreativ gestalten, Zahlen erheben und auswerten, und so weiter.

Viele Leute kommen in einer hochdigitalisierten Umgebung glänzend zurecht, ohne selbst je ein Stück Quellcode gesehen zu haben. Dazu gehören nämlich die ganzen Abläufe in einer vernetzten Welt, die indirekt durch die Digitalisierung betroffen sind. Informationen werden so umgeformt, Prozesse so definiert und Ziele so gesetzt, dass sie dann von Programmen und Programmierern sinnvoll bearbeitet werden können. Es geht darum, die eigenen Fähigkeiten in die Zusammenarbeit einzubringen und so anschlussfähig zu machen, dass das Team Projekte für eine digitalisierte Welt entwickeln kann. [...]
Design Thinking ist im Kern eine gute Idee, die abgeleitet wurde aus der Arbeit der Leute, die Web-Anwendungen entwerfen und gestalten, bevor man sich mit der konkreten Programmierung beschäftigt. Daraus entstand im Silicon Valley ein Methoden-Baukasten, der dann vom SAP-nahen Hasso Plattner-Institut in Potsdam auch nach Deutschland importiert wurde. Oft ist Design Thinking allerdings nicht viel mehr als ein mehr oder minder anregendes Kreativitäts-Larifari für Wochenend-Workshops. Wenn es aber ernsthaft betrieben wird, ist es eine eigene Disziplin, in der es darum geht, in konzentrierter und zeitraubender Teamarbeit komplexe Problemlösungen zu finden.


Eigentlich geht es darum, dem verengten Blickwinkel der IT-Ingenieure wie auch dem Wunschdenken der Marketingleute zu entkommen. Gute Design Thinking-Methoden zielen auf eine Haltung, die pragmatisch und empathisch zugleich ist. Sie rücken die Perspektive der real existierenden Menschen und ihren unübersichtlichen, und ordentlichen Alltag in den Blick [...]. So verstanden ist Design Thinking eng verwandt mit den emanzipatorischen Idealen des Guerilla-Lernens.
So verstandene Design-Kompetenzen sind tatsächlich für fast alle nützlich, die sich in der digitalisierten Welt durchschlagen. Das ist sozusagen die Hintertür, durch die die verdrängten sozial- und kulturwissenschaftlichen Methoden in die verarmte MINT-Welt wieder einsickern. MINT ist in aller Munde, für die Zahlenmenschen ist überall gesorgt, aber welches griffige Etikett halt die andere Hälfte, die wir in der digitalen Gesellschaft und Wirtschaft mindestens genauso brauchen? 
[...] für den Anfang stelle ich ZONS zur Diskussion: Zeichen, Organisation, Netzwerk, System.
Z steht für die Disziplinen, die sich nicht wie Mathematik mit Zahlen und Formeln befassen, sondern mit Zeichen und Texten. So wie es mathematische Kompetenzen gibt, gibt es auch Zeichenkompetenzen – es geht dann darum, Texte zu verstehen, zu analysieren, zu verformen und in neuen Formen zusammenzustellen. Das geht weit über das hinaus, was die akademische Semiotik abdeckt. (Semiotik ist die Wissenschaft von den Zeichen.) Solche Zeichenkompetenzen kann man grundsätzlich in allen Kultur- und sprachwissenschaftlichen Fächern erwerben und einüben. Bisher geschieht das nur am Rand, aber gerade jetzt beginnen sich mit den sogenannten Digital Humanities Disziplinen zu entwickeln, die Schriftsprache als Teil des neuen digitalen Informationsraums behandeln.


Als Leser fühle ich mich von Belshaw angesprochen, wenn ich hier Martin Lindner (mit seiner Zustimmung) ausführlich zitiere oder wenn ich immer wieder auch kleine Gesprächsergebnisse mit meinen Netzbekannten auf Wikiversity festhalte. Und überhaupt bei diesem gesamten Blog, der zu großen Teilen auf copy & paste + Links mit Kurzkommentaren beruht.

zum Kontext:
https://fontanefanopco11.blogspot.com/2019/04/martin-lindner-die-bildung-und-das-netz.html

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