Frontiers können beides sein: Orte der
Vernichtung und Orte der Neubildung. Destruktion und Konstruktion
sind oft dialektisch miteinander verschränkt. Joseph Alois
Schumpeter nannte das in einem anderen Zusammenhang "schöpferische Zerstörung". Im 19. Jahrhundert wurden an Frontiers ganze Völker
dezimiert oder zumindest ins Elend gestürzt. Gleichzeitig entstanden
dort die ersten demokratischen Verfassungsstaaten. Frontiers können
also ebenso Schauplätze archaischer Gewalttätigkeit wie
Geburtszonen politischer und gesellschaftlicher Modernität sein.
Auch im 20. Jahrhundert gab es noch Frontiers; an ihnen setzten sich
zuweilen Prozesse aus dem 19. Jahrhundert heraus fort. Aber es
scheint, als hätten Frontiers ihre Doppelsinnigkeit verloren.
Konstruktive Entwicklungen wurden selten, Frontiers wandelten sich zu
peripheren Zonen straff gelenkter Imperien, die sich von dem inneren
Pluralismus des British Empire deutlich unterschieden.
Neu waren nach
dem Ersten Weltkrieg eine gesteigerte Ideologisierung und
Verstaatlichung von Neulanderschließung durch bäuerliche Siedler. [...]
Hitler, der Leser und
Bewunderer Kar! Mays, zog unmittelbare Parallelen zwischen dem Wilden
Westen Old Shatterhands und dem Wilden Osten, den er selbst Anfang
der 1940er Jahre zu schaffen begann. [...] Die deutsche "Blut und Boden"-Ideologie, in der ethnische
Säuberungen größten Stils und Massenmord vorgedacht wurden,
verkörpert die Extremform dieses Denkens. Die Siedler waren nicht
selbst als Exekutoren solch extremer Ziele vorgesehen, doch dienten
sie in jedem dieser Fälle als Instrumente staatlicher Politik.[...] Die Siedler der faschistischen Imperialträume - ob in
Afrika, der Mandschurei oder an der Volga - waren Versuchskaninchen
einer staatlich gelenkten Volkstumspolitik. Ihnen fehlten die
Hauptmerkmale Turnerscher Pioniere: Freiheit und self-reliance. [...]
Siedlungskolonialismus: die erstarrte
Frontier
Nicht jede Form von Grenzexpansion
durch nicht-staatliche Akteure führt zum dauerhaften Voranschieben
einer erkennbaren Scheidelinie zwischen Wirtschafts- und Lebensformen.
Die frühe kanadische Frontier war eine undemarkierte Zone des
Kontakts zwischen indianischen und weißen Pelzjägern und
Pelzhändlern, allesamt Menschen von hoher Mobilität und das schiere
Gegenteil von Siedlern, und die Amazonasgrenze war nie etwas anderes
als ein Raum der Plünderung und des Raubbaus. Grenzkolonisation ist
daher eine Unterkategorie von Grenzexpansion. Damit ist die in den
meisten Zivilisationsräumen bekannte extensive Erschließung von
Land für die menschliche Nutzung gemeint, das Hinausschieben einer Kultivierungsgrenze in die "Wildnis" hinein zum Zwecke der Landwirtschaft oder der Gewinnung
von Bodenschätzen. [...]
Besonders die Eisenbahn
hat die Rolle des Staates in einem Prozess gestärkt, der in der
Geschichte meist durch nichtstaatliche Gemeinschaften organisiert
wird. Die umfassendste staatlich gelenkte Eisenbahnkolonisierung war
die Erschließung des asiatischen Russland seit dem späten 19.
Jahrhundert.
Siedlungskolonisation wiederum ist eine Sonderform
der Grenzkolonisation, die ihre erste europäische Ausprägung in der
Kolonisationsbewegung des griechischen Altertums (und zuvor schon der
Phönizier) fand: die Anlage von "Pflanzstädten" jenseits des
Meeres in Gegenden, wo meist nur relativ geringe militärische
Machtentfaltung möglich und erforderlich war. Nicht nur unter
antiken, sondern auch noch unter neuzeitlichen Bedingungen macht die
Logistik einen entscheidenden Unterschied zu anderen Formen von
Grenzkolonisation aus. Das Meer, aber ebenso vergleichbare
Zwischenräume kontinentaler Unwirtlichkeit (Kulja in Xinjiang war
unter vorindustriellen Verkehrsbedingungen von Peking aus wesentlich
langwieriger zu erreichen als Philadelphia von London aus) verhindern
jene Regelmäßigkeit und Frequenz von Beziehungen, die erst soziale
Kontinuität erlaubten.
Unter solchen Voraussetzungen war es
möglich, dass aus der Kolonisation tatsächlich Kolonien im Sinne
nicht nur von Grenzsiedlungen, sondern von distinkten Gemeinwesen
hervorgingen, sich also Siedlergesellschaften mit eigenen politischen
Strukturen bildeten. Der klassische Fall sind die Anfänge der
englischen Besiedlung Nordamerikas. [...]. Aus diesen Umständen
entwickelte sich Typ I, der «neuenglische» Typ, von
Siedlungskolonisation: Wachstum einer agrarischen Siedlerbevölkerung,
die ihren Arbeitskräftebedarf aus der eigenen Familie und durch
Rekrutierung von europäischen "Schuldknechten" (indentured
servants) deckt und die ökonomisch für sie nutzlose, demographisch
schwache einheimische Bevölkerung rücksichtslos vom Land verdrängt.
[...]
Ein zweiter Typ von
Siedlungskolonisation stellt sich dort ein, wo eine politisch
dominante Siedlerminderheit mit Hilfe des kolonialen Staates eine
traditionell bereits Ackerbau treibende einheimische
Bevölkerungsmehrheit zwar vom besten Land vertreiben kann, aber auf
ihre Arbeitsleistung angewiesen bleibt und in ständiger Konkurrenz
mit ihr um knappen Boden steht. Anders als beim «neuenglischen» Typ
sind die Siedler bei dieser zweiten Form, die man nach ihren
wichtigsten modernen Ausprägungen (Algerien, Rhodesien, Kenia, auch
Südafrika) die "afrikanische" nennen kann, von der indigenen
Bevölkerung wirtschaftlich abhängig. Dies erklärt auch die
Instabilität dieses zweiten Typus. Nur die europäische Kolonisation
Nordamerikas, Australiens und Neuseelands ist irreversibel geworden,
während es in den afrikanischen Siedlungskolonien zu besonders
heftigen Dekolonisationskämpfen kam.
Ein dritter Typ von
Siedlungskolonisation löst das Problem der Versorgung mit Arbeitskräften nach der
Vertreibung oder Vernichtung der Urbevölkerung durch Zwangsimport
von Sklaven und deren Beschäftigung in einer
mittel- bis großbetrieblieh organisierten Plantagenökonomie. [...] In der britischen Karibik
machten um 1770 Schwarze etwa 90 Prozent der Gesamtbevölkerung aus,
in den nördlichen Kolonien der späteren USA zur gleichen Zeit nur
22 Prozent, in den späteren "Südstaaten" immerhin nicht mehr als
40 Prozent.
[...] im 19. Jahrhundert wurden Frontiers,
zumeist kapitalistisch bewirtschaftet, zu Kornkammern der Welt. [...] Als führende Produzenten und Exporteure von Weizen und nicht
durch Industrialisierung fanden sie zu Prosperität. Zwischen 1909
und 1914 produzierte Argentinien 12,6 Prozent der Weltexporte an
Weizen, Kanada sogar 14,2 Prozent. [...]
Der klassische Siedlungskolonialismus
beruhte auf der Nutzung eines Überflusses an preiswertem Land.
Solches Land wurde mit Hilfe aller möglichen Methoden von Kauf über
Täuschung bis zu gewaltsamer Vertreibung in den exklusiven Besitz
der Siedler gebracht. [...]
Entscheidend ist, dass den bisherigen
Nutzern, sehr oft mobilen Stammesgesellschaften, der Zugang verwehrt
wurde. [...] Nomaden verloren ihre besten Weidegründe an den Ackerbau [...]
Konflikte zwischen unterschiedlichen
Auffassungen von Landbesitz waren eine allgegenwärtige
Begleiterscheinung der europäischen Frontierexpansion. [...] Im British Empire und seinen
Nachfolgestaaten (etwa den USA) wurde Land zur frei handelbaren und
verpfändbaren Ware. [...]
Im 19.Jahrhundert agierte die britische
Krone keineswegs immer als Handlangerin von Siedlerinteressen. In
Neuseeland etwa, einer der wichtigsten Siedlungskolonien, gaben sich
die staatlichen Autoritäten in den ersten Jahrzehnten nach dem
Beginn der Kolonisation um 1840 alle Mühe, direkte Landabtretungen
von Maori an britische Privatleute zu unterbinden und die Maori vor
Landhaien zu schützen. [...] Der koloniale Staat hielt an einer königlichen
Prärogative über die Verfügung allen Landes fest, auch des von
Einheimischen effektiv genutzten, übte faktisch eine Art
Vorkaufsrecht aus und versuchte, durch die Vergabe von Kronlehen eine
Anarchie von Privatinteressen zu verhindern. [...]
Der klassische Siedlungskolonialismus
besaß eine immanente Tendenz zu semi-autonomer Staatsbildung.
Siedler wollen sich selbst regieren und streben nach demokratischen
oder zumindest oligarchischen Verhältnissen. Die schroffe Sezession,
die sich 1776/83 die Mehrheit der britischen Siedler in Nordamerika
erlaubte, und die Unabhängigkeitserklärungen der Burenrepubliken in
Südafrika 1852/54 blieben Ausnahmen. Erst 1965 kam es in
Südrhodesien (später: Simbabwe) wieder zu einer Siedlerrevolte von
staatspolitischer Dimension. Die meisten Siedler benötigten das
schützende Dach eines Imperiums [...]
Der klassische
Siedlungskolonialismus war eine historische Kraft von ungeheurer
transformativer Energie. Kein Bereich bekam dies stärker zu spüren
als die Natur. [...]
Neuseeland, eine so ferne Welt, dass
man von Europa dorthin ohne die Hoffnung auf baldige Wiederkehr
reiste, wurde biologisch besonders radikal revolutioniert. Schon
Kapitän Cooks Schiffe, die 1769 gelandet waren, hatten auf ein Land,
in dem es außer dem Hund, der Fledermaus und einer kleinen Rattenart
keine Säugetiere gab, wie eine Arche Noah gewirkt. [...]
Im 19. Jahrhundert generalisierte sich
der "kolumbianische Austausch" von Pflanzen und Tieren von einem
transatlantischen zu einem globalen Phänomen, und die Eingriffe
siedelnder Landwirtschaft gingen weiter und tiefer als je zuvor.
(Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S.531 ff.)
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