Mittwoch, 25. April 2018

Osterhammel: Über Revolutionen

Nach der Erörterung von Revolutionsdefinitionen erläutert Osterhammel am Beispiel der amerikanischen und der französischen Revolution das Neue der beiden "Aufklärungsrevolutionen", das den Beginn der 'politischen Moderne' bedeute:
"Hatten frühere gewaltsame Umwälzungen doch immer wieder nur zu den bloß äußerlich modifizierten früheren Zuständen zurückgeführt, so sprengten die amerikanischen und die französischen Revolutionäre den Horizont der Zeit, öffneten eine Bahn linearen Fortschritts, fundierten gesellschaftliches Zusammenleben erstmals auf dem Prinzip formaler Gleichheit und unterstellten politische Machthaber einer regelgeleiteten, von Traditionen wie von Charisma gelösten Rechenschaftspflicht gegenüber einer Gemeinschaft von Staatsbürgern. Mit diesen beiden Revolutionen, so unterschiedlich sie gemeint gewesen waren, begann die politische Moderne. Nichts an ihnen blickte zurück, war "frühneuzeitlich", Sie setzten Maßstäbe, an denen alles neu gemessen wurde. Erst seit den beiden Revolutionen des Aufklärungszeitalters trugen die Verteidiger des Bestehenden den Stempel des Überholten, Gegenrevolutionären, Reaktionären oder mussten ihre Haltung als bewusst "konservativ" neu begründen." (S.737) (Hervorhebungen von Fontanefan) 

Nimmt man die Programme der Nordamerikanischen und der Französischen Revolution beim Wort, dann gehören seither zu jeder Revolution, die sich so nennen darf, das "Pathos des Neubeginns"(Arendt) und der Anspruch, mehr zu vertreten als nur die selbstsüchtigen Interessen der Protestierenden. Eine Revolution ist in diesem Verständnis ein lokales Ereignis mit universalem Geltungsanspruch. Und jede spätere Revolution zehrt von den Ideenpotenzialen, die mit der revolutionären Urzeugung von 1776 und 1789 in die Welt kamen, jede ist in gewissem Sinne imitativ." (S.738)
"Die Revolution selbst kann mit ihrer unvermeidlichen "Veralltäglichung" ihren Massenimpuls verlieren und in ein bürokratisches Regime übergehen, das manche Ziele der Revolution mittels der Instrumente der Staatsmacht durchsetzt, oft ohne, gegen oder gar auf Kosten der Revolutionäre der ersten Stunde. Napoleon und Stalin waren "Revolutionäre von oben" dieses Typs." (S.742)
In Japan fand statt "das radikalste Experiment einer Revolution "von oben", zugleich aber eines, das diesen Namen verschmähte und sich selbst als angebliche Wiederherstellung früherer Zustände legitimierte: die "Meiji-Renovation" in Japan nach 1868. [...] Diese besondere Art einer nicht gegenrevolutionär motivierten und auch in keiner Weise universale Prinzipien propagierenden Erneuerung unter dem Gesichtspunkt rapider Effizienzsteigerung war im eigenen Lande von ebenso einschneidender Wirkung wie die Nordamerikanische und die Französische Revolution in ihren jeweiligen Ursprungsländern. Der historische Kontext war aber nicht das Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit und mangelnde Mitsprache, sondern das "Fitmachen" einer werdenden Nation für einen globalen Wettbewerb, dessen neuartige Regeln man von Anfang an anerkannte und für sich zu nutzen suchte. [...]  Die Meiji-Renovation muss an anderer Stelle historisch eingeordnet werden: Sie war die radikalste und erfolgreichste Selbststärkungsaktion des 19.Jahrhunderts [...]" (S.742/43)
"Da in der Neuzeit Revolutionen oft als die Gründungsakte von Nationen und Nationalstaaten gesehen werden, ist Revolutionsgeschichte ihrem Wesen nach Nationalgeschichte. Die Nation "erfindet" sich in der gemeinsamen Anstrengung der Revolution." (S.748)

Nordamerika
"Von toten Klassikern wie John Locke bis zu sehr lebendigen Publizisten und Agitatoren wie Thomas Paine, dessen Schrift Common Sense (1776) der Nordamerikanischen Revolution im richtigen Moment einen kräftigen Schub versetzt hatte, stammten einige der wichtigsten Ideengeber der revolutionären Epoche aus Großbritannien." (S.752)

Frankreich
"Die Weltwirkung der Französischen Revolution entfaltete sich langsam, und es waren zunächst die Armeen Napoleons, die sie von Ägypten bis Polen und Spanien in die Welt hinaustrugen." (S.756)

Haiti
"Die Revolution in der Kolonie Saint-Domingue, die die westliche Hälfte der Antilleninsel Hispaniola ausmachte und mit dem Staat Haiti in seinen heutigen Grenzen schon im 18.Jahrhundert fast identisch war, ist in einem unmittelbaren Sinne als Folge der Revolution in Frankreich zu verstehen. (S.757)  In keiner einzigen anderen Sklavereigesellschaft sollte sich im 19.Jahrhundert das Schauspiel einer revolutionären Selbstbefreiung der Sklaven wiederholen." (S.760)

Lateinamerika
 "Die Führer der hispanoamerikanischen Unabhängigkeitsrevolutionen waren zumeist Kreolen, also in der Neuen Welt geborene Weiße spanischer Abstammung. Typischerweise gehörten sie der wohlhabenden Oberschicht an, waren Grundbesitzer und/oder Mitglieder des städtischen Patriziats. Solche Leute mussten bei aller Sympathie für die liberalen Ziele der Anfangsphase der Französischen Revolution einen jakobinischen Radikalismus als Bedrohung empfinden." (S.763)
"[...]  brach das spanische Kolonialsystem nicht wie das britische schon im dritten Quartal des 18.Jahrhunderts zusammen. Vielmehr behauptete es sich, bis 1808 Napoleons Invasion Spaniens die Bourbonenherrschaft in Spanien selbst zum Einsturz brachte." (S.764)
"1816 sah es so aus, als habe Spanien den Widerstand - mit Ausnahme vor allem Argentiniens - unter Kontrolle gebracht. [...] Erst nach diesem Tiefpunkt der revolutionären Sache begann allmählich eine zweite Phase von Befreiungskriegen, eine Phase, in der caudillos bereits eine ominöse Rolle zu spielen begannen: Kriegsherren, deren Macht darauf beruhte, dass sie ihren bewaffneten Banden und zivilen Anhängern den Zugang zu Beute sicherten, und die sich nicht um staatliche Institutionen scherten. [...] Dass die Spanier beim Versuch der reconquista Amerikas französische Methoden der Guerillabekämpfung anwandten, die sie kurz zuvor am eigenen Leibe erfahren hatten, zeigt ein weiteres Mal den revolutionären Atlantik als Lernzusammenhang." (S.766) "In späteren Phasen war 'private' Unterstützung nicht unwichtig. Englische und irische Söldner und Freiwillige kämpften an verschiedenen Schauplätzen (zwischen 1817 und 1822 trafen 5300 von ihnen in Südamerika ein) und wurden zu einem wichtigen militärischen Faktor; amerikanische Freibeuter gingen mit Duldung ihrer Regierung gegen spanische Schiffe vor, und britische Kaufleute besorgten finanzielle Unterstützung: längerfristig eine gute Investition in die Erschließung neuer Märkte." (S.767)

Transatlantische Integration
"Die atlantischen Revolutionen entstanden aus einem beide Ränder des Ozeans erfassenden Beziehungsgeflecht, das seit den Zeiten des Kolumbus gewachsen war. Mehrere Ebenen der Integration überlagerten sich:
(1) die administrative Integration innerhalb der großen Imperien Spaniens, Englands/Großbritanniens und Frankreichs sowie der kleineren Portugals und der Niederlande;
(2) die demographische Integration durch Migration in die Neue Welt, vor allem von Osten nach Westen, aber auch durch Re-Migration in umgekehrter Richtung, vor allem von kolonialem Personal; (3) die Integration durch den Handel, vom Pelzhandel im Norden bis zum Sklavenhandel von Angola nach Brasilien im Süden [...]; dieser Handel schuf so etwas wie eine gemeinsame atlantische Konsumkultur (also die Anfänge des heutigen westlichen consumerism), deren Unterbrechung durch politisch motivierten Boykott nun erstmals zur Waffe im internationalen Umgang wurde;
(4) die Integration durch kulturelle Transfers mannigfacher Art von der Übertragung westafrikanischer Lebensformen über die Verbreitung performativer Praktiken kreuz und quer durch die Region bis zur modifizierten Reproduktion europäischer Architekturstile jenseits des Atlantiks;
(5) die Integration durch gemeinsame oder ähnliche, von einer wachsenden Zirkulation von Büchern, Pamphleten und Zeitschriften getragene und verbreitete normative Grundlagen einer "atlantischen Zivilisation"; schon der englische Schriftsteller und Literaturkritiker William Hazlitt hatte 1828 die Französische Revolution als Spätfolge der Erfindung des Buchdrucks bezeichnet." (S.770/71)
"Ganz eigentümlich im großen atlantischen Revolutionsfeld war die Stellung Großbritanniens. Es war spätestens seit 1763 die stärkste Militärrnacht im atlantischen Raum. Der Versuch, die eigenwilligen Kolonialbriten zur Räson zu bringen, löste überhaupt erst die Kettenreaktion (wenn man es einmal so linear vereinfachen will) der zeitlich aufeinanderfolgenden Revolutionen aus. Überall war Großbritannien beteiligt. Es führte Krieg gegen sämtliche Revolutionen der Zeit außer der lateinamerikanischen [...]. Bei alledem blieb das britische politische System intakt [...]" (S.773)
"Die eingängige, vor allem von Eric Hobsbawrn populär gemachte These von der "Doppelrevolution" - politisch in Frankreich, industriell in England - ist nicht länger haltbar. Mit den großen Texten des Revolutionszeitalters, vor allem der nordamerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776), der Verfassung der USA (1787), der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789), dem französischen Dekret über die Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien (1794) oder Bolivars Rede von Angostura (1819), beginnt die politische Moderne. Diese Dokumente stammen aus einer Zeit, als selbst in Großbritannien die Industrielle Revolution erst kaum revolutionär gewirkt hatte. Die
atlantische Revolutionsdynamik wurde nicht von den neuen sozialen Konflikten der Industrialisierung gespeist. Wenn etwas an ihr "bürgerlich" war, dann hatte es mit Industrie nichts zu tun." (S.776/77)

Die Konvulsionen der Jahrhundertmitte
"Die einzelnen Revolutionen flossen 1848/49 nicht zu einer einzigen großen europäischen Revolution zusammen, aber Europa wurde in einem Maße wie zuletzt während der Napoleonischen Kriege zu einem "Kommunikationsraum", einer "großräumigen Handlungseinheit." (S.778)
"Differenziert man sozial, dann gewannen die Bauern am meisten." (S.779)
"Eine zweite ebenso unumkehrbare Langzeitfolge bestand darin, dass viele gesellschaftliche Gruppen lernten, die oft für sie selbst überraschende Erfahrung der Politisierung in festere institutionelle Formen zu gießen. Daher markieren die europäischen Revolutionsjahre einen Wendepunkt in einer Entwicklung 'von den überlieferten Formen kollektiver Gewalt zur organisierten Interessendurchsetzung'." (S.781)
"Unbezweifelbar ist aber, dass die Revolution einen erheblichen brain drain in die liberaleren Länder Europas und in die Neue Welt auslöste und dass viele Emigranten ihre politischen Ideale mitnahmen. [...]  Wie schon so oft in der Vergangenheit, nutzte die britische Regierung das bequeme Mittel der Deportation (transportation), um Unruhestifter unblutig aus dem Weg zu räumen." (S.782)

(Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S.738 ff.)

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