"Elmar Krekeler meint zu Tellkamps politischer Haltung:[25] „Er ist immunisiert gegen Ostalgie und frei von überflüssiger Euphorie über das wiedervereinigte Deutschland“. Krekeler bescheinigt dem Autor einen Hang zur „Hermetik“, d. h. zu Aussagen, die nicht gänzlich dechiffriert werden können. Diesen Hang erklärt Krekeler durch einen doppelten Ausschluss Tellkamps von der ihn umgebenden Welt: erstens die zwangsweise Trennung des DDR-Bürgers durch Mauer und Stacheldraht vom Westen und zweitens die freiwillige Absonderung des Angehörigen des Bildungsbürgertums, das in Ostdeutschland auf eine im Westen oft als „museal“ empfundene Weise erhalten geblieben sei, von der Gesellschaft der DDR.[26] Dadurch stehe Tellkamp seinen Kollegen im ehemaligen Ostblock geistig näher als seinen deutschsprachigen Kollegen in den alten Bundesländern, in Österreich und der Schweiz."
Am 8.3. 18 findet eine Podiumsdiskussion „Streitbar! Wie frei sind wir mit unseren Meinungen?“ mit Tellkamp statt (knapp 2 Stunden)
Ein Recherchekollektiv Dresden stellt dazu eine Kurzfassung polemischer Äußerungen Tellkamps von gut 20 Minuten ins Netz und es kommt zu einer Empörungswelle im Internet.
"Rechte Wahlerfolge und linke Empörungskultur schließen sich nicht aus, und vielleicht, möchte ich vorsichtig anregen, ist es gar nicht so klug und weise, undifferenziert jeden in einen schlimmstmöglichen Topf zu werfen und abzuurteilen, nur weil er halt anders denkt und lebt und Sachen sagt, die man selbst nicht sagen würde. Weil das die anderen erst zusammen bringt."
Zur Meinungsfreiheit hat schon Voltaire sich deutlich geäußert:
„Das Recht zu sagen und zu drucken, was wir denken, ist eines jeden freien Menschen Recht, welches man ihm nicht nehmen könnte, ohne die widerwärtigste Tyrannei auszuüben. Dieses Vorrecht kommt uns von Grund auf zu; und es wäre abscheulich, dass jene, bei denen die Souveränität liegt, ihre Meinung nicht schriftlich sagen dürften.“ (zitiert nach: Was hat Voltaire wirklich zur Meinungsfreiheit gesagt?, 15.1.2011; dort auch der Hinweis auf die Quelle des ihm fälschlich zugeschriebenen Zitats)
Wenn Tellkamp allerdings, wie es klingt, der Meinung sein sollte, man dürfe ihm nicht in aller Schärfe widersprechen, dann stellt er sich selbst gegen Meinungsfreiheit.
Die Empörungswelle ist m. E. zum Teil überzogen. Wie er nach den erschreckenden Folgen des Flüchtlingspakts zwischen Bundesrepublik Deutschland und der Türkei noch davon sprechen kann, es würde nicht genügend dazu getan, die Zahl der Flüchtlinge* einzugrenzen, ist mir freilich schwer nachvollziehbar. (Ich weiß aber, dass ich mich in Erregung zu völlig unhaltbaren Aussagen versteigen kann, die ich nachher bereue.)
Adam Soboczynski hat in der ZEIT vom 22.3.18 unter dem Titel "Der neue Ostblock" analysiert, wie aufgrund unterschiedlicher Verletzungserfahrungen "der Westen den Osten Deutschlands, Ungarn und Polen als rechts ansieht, während "der Osten einfach nicht versteht, warum er immerzu als rechts angesehen wird". Am Schluss führt er an, wie auf hohem Niveau sogar zwischen Jürgen Habermas und Christa Wolf kein gegenseitiges rechtes Verstehen erreicht wurde.
"Christa Wolf hatte zuvor Habermas die ostdeutschen "Thesen für eine Vereinigte Akademie der Künste Berlin-Brandenburg" überreicht, in denen von ungleichen, aber gleichwertigen Beschädigungserfahrungen in Ost und West die Rede ist: Das Denken sei "auf beiden Seiten" beengt gewesen. Auf beiden Seiten habe es Weltmächte gegeben: "Anpassungen, die Spuren hinterlassen haben und die zu einer Differenz der Identitäten von Ostdeutschen und Westdeutschen geführt haben." Habermas führt in seinem Brief aus, wie sehr ihn diese "merkwürdige Konvergenzthese" befremdet. Keineswegs habe die Westorientierung, die er selbst vollzogen habe, eine "Verkrümmung der deutschen Seele bedeutet, sondern die Einübung in den aufrechten Gang". Er suggeriert damit: Die Weltoffenheit des Westens ist mit den beengten ostdeutschen Erfahrungen nicht auf eine Stufe zu stellen.
Im Rückblick haben interessanterweise beide recht, allerdings in zwei verschiedenen Aspekten der Auseinandersetzung. Man kann wohl behaupten, dass den Ostdeutschen die unbegrenzten Weiten des Westens verschlossen blieben, die Einübung in die Toleranz gegenüber fremden Kulturen und manch intellektueller Einfluss. Dem Westen fehlt dafür bis heute das Bewusstsein für die Fragilität des eigenen Systems, das nicht naturgegeben ist und herausgefordert werden kann.
In einem war Christa Wolf gewiss hellsichtig: in ihrer Annahme, dass die Identitäten von Ost und West manifest und langlebig sind – und es noch lange nicht ausgemacht ist, ob die Unterschiede fruchtbar werden oder auf dramatische Weise spaltend."
Dass Uwe Tellkamp und Durs Grünbein in einem öffentlichen Gespräch nicht zusammenfinden konnten, liegt allerdings nach meiner Einschätzung auch an unterschiedlichen Verletzungs- und Befreiungserfahrungen.
Die Verletzung durch die realsozialistische Diktatur teilen beide, die Befreiung aber war für Tellkamp stärker mit er Nichtanerkennung der ostdeutschen Erfahrungen, für Grünbein stärker mit der Integration in eine "Weltkultur" verbunden.
Wenn hier nahezu dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer eine Spaltung auftritt, so hat das gewiss mit unzureichender Gesprächskultur zu tun. Wolf Biermann konnte sich seit 1976 zu einem in die "Weltkultur" integrierten konservativen Kapitalisten entwickeln (sehr zum Ärger seiner westdeutschen Anhänger, die seine Verletzungen nicht teilen mussten), Tellkamp, der nie überzeugter Sozialist war, konnte die Übernahme des Ostens und der Vereinnahmung, für die Folgen des Imperialismus mit verantwortlich zu sein, nicht recht akzeptieren.
*Hier mein Beitrag zum Thema Flüchtlinge.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen