Mittwoch, 11. März 2020

Wie sich die Sicht auf die Welt verändert

Norbert Blüm ist nach einer Sepsis von den Schultern an gelähmt.

"[...] Auch Ereignisse wie die Wiedervereinigung sehe er nun in anderem Licht. Er habe sie als ein "einmaliges historisches Ereignis" erlebt, von dem er meinte, "dass es die herkömmliche Geschichte beendete". Jetzt dämmere ihm: "Sie war eher nur ein Brückenpfeiler zwischen der Vergangenheit und den Umwälzungen der Zukunft." [...]

Spiegel online 11.3.20

"[...] Wir atmen, ohne an das Atmen zu denken. Ich dagegen muss dem Körper mit großer Willensanstrengung fast jeden Atemzug abringen. Wo bleibt die Lust am freien Atmen draußen in der Natur?
Die "normalen Verhältnisse" bieten ein Potenzial an Lust, das wir erst zu schätzen wissen, wenn wir es verloren haben.[...]"




Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;
jenes bedrängt, dieses erfrischt;
so wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt!

Goethe: West-östlicher Divan, Buch des Sängers, Talismane

So konnte Goethe schreiben, als er nicht eine Endgültigkeit und das für eine von der modernen Medizin für eine nahezu unbegrenzte Zeitdauer garantiert. 
Doch wer interessierte sich heute noch für Norbert Blüms Ansichten, wenn er nicht so ein ungewöhnliches Schicksal hätte und die Fähigkeit "zu sagen, was ich leide" (Goethe; er dankt dafür 'einem Gott')

Wieder Blüm:
"Der Mensch ist das sinnsuchende Tier.
Ich beurteile manche Ereignisse meines Lebens anders als bisher, und der Rollstuhl bildet 
die Wasserscheide. [...] Früher schloss ich in die Bewertung meiner Aktivitäten die 
öffentliche Resonanz ein. Jetzt gelten die nackten Fakten.
Die Krankheit erlaubt keine Flucht in Ausreden. Schnörkellos führt sie uns zu dem, was wir
sind. Die Krankheit zerstört unsere Allmachtsfantasien und dämpft unsere versteckten Überheblichkeiten. Alle Prestige-Vehikel, Orden und Ehrenzeichen verlieren ihre Bedeutung. So sind wir, wie wir sind, mit der Krankheit allein.
In den Turbulenzen meines Lebens war die Familie oft Zufluchtsort. Sie ist mein privates 
Exil*. Auch jetzt habe ich mich wieder in die Arme der Familie geflüchtet, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ich bin daheim."
Blüms vollständiger Text in ZEIT online 11.3.20
Marianne Leibholz (Tochter von Sabine Leibholz) schrieb in Großbritannien in ihrem 
Gedicht "Exil":
*"Und wie er Raum um Raum verlassen lernte, 
lernt er verlassen mit der Zeit; [...]
Wird nie mehr wie vor Zeiten Heimat finden.
Er ahnt es, dankbar. Und sein Herz ist leicht."

Für Blüm ist Exil ein Zufluchtsort. Für die, die ihr Zuhause verlassen mussten, war es eine 
Zumutung wie für ihn die Lähmung, die ihn von Fremden abhängig macht. Dankbar ist er 
ihnen; und doch flüchtet er zu bei denen, die ihn als den kannten, der er einmal war. 
Dort findet er noch etwas Heimat, die ihm sein Körper nicht mehr bietet. 

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