Mittwoch, 13. November 2019

Sascha Lobo zur Plattform-Ökonomie

Die Plattform-Ökonomie zieht herauf, und  Kylie Jenner zeigt, welche Marktmacht sich damit freisetzen lässt, welche Konsumkraft so entfaltet werden kann. Eine Plattform ist technisch gesehen eine digitale Infrastruktur, auf der zwei oder mehr Gruppen interagieren können. Man muss sie als neue Unternehmensform verstehen,  die überhaupt erst mit dem Internet möglich geworden ist. Dabei entstehen digitale Ökosysteme, das heißt, nicht nur die Plattform profitiert wirtschaftlich, sondern auch eine größere Zahl von Kooperationspartnern. [...] Uber funktioniert auch nach dem Plattform-Prinzip und attackiert seine Konkurrenten so aggressiv, als wolle es sie vernichten." (Sascha Lobo: Realitätsschock, S.338)
"Der Realitätsschock der Ökonomie hat mehrere Dimensionen. Digitale Plattformen erobern mit großer Radikalität einen Markt und eine Branche nach der anderen. Viele ökonomische und gesellschaftliche Probleme beruhen darauf, dass wir bis heute nicht herausgefunden haben, wie Plattformen richtig reguliert werden können." (S.340)
"Facebook hat 2017 in Großbritannien Einnahmen von etwa anderthalb Milliarden Euro erzielen können und davon rund neun Millionen  Euro  Steuern gezahlt. Das ist nicht einmal ein Prozent. Amazon hat 2018 auf über elf Milliarden Dollar Gewinn in den USA null Dollar 'federal taxes' gezahlt und 129 Millionen Dollar Erstattungen bekommen. Ähnliche Zahlen sind von fast allen großen Digitalunternehmen bekannt. Das Problem ist, dass solche Tricks zumeist legal sind. Das liegt neben politischen Versäumnissen auch daran, dass das Steuerrecht in seinen Grundzügen noch auf der alten Wirtschaft mit dinglichen Produkten und klassischen Dienstleistungen beruht." (S. 341)
Bei Plattformen greifen die klassischen Konsumtheorien von der Bedürfnisbefriedigung nicht mehr:
 "Digitale Plattformen haben eine katalytische Funktion, sie verwandeln ganze Märkte in Gefühlslandschaften. Drei Gefühle sind dabei ausschlaggebend:
  • Begeisterung
  • Ungeduld
  • Bequemlichkeit 
(S. 347)

Begeisterung: "Nutzungsfreude" tritt an die Stelle von Zweckmäßigkeit.
Ungeduld: "Wenn im Plattform–Kapitalismus das Ziel nur einen einzigen Klick oder Touch entfernt ist – dann ist der beste Weg dorthin, impulsive Gefühle der Verlockung zu erwecken." (S.352/53) Das gelingt den großen Plattformen vorzüglich. Was einmal das Kaufhaus Harrods in London war, ist jetzt Amazon. Und zwar zu Hause. Man kann sofort alles kaufen. (Bei Harrods hieß es: sogar Elefanten.) Das führt zum Aspekt:
Bequemlichkeit: "[...] die Beqemlichkeit des Menschen ist zuverlässiger und wirksamer als die Schwerkraft" (S.354) Interessanterweise gelingt es dabei trotzdem, dem Kunden jede Menge Arbeit anzuhängen, die früher der Verkäufer leistete: Beratung, Heraussuchen des Produkts aus der Fülle des Angebots, Zusammenstellung aller Daten für die Rechnung und Überweisung auf das Konto des Verkäufers. Auch wenn die Kunden dabei fluchen. Sie nehmen dem Verkäufer die Arbeit ab. Es treibt sie die Ungeduld (s.o.).*

"In anderthalb Jahren haben zwei große Plattformen den Werbemarkt halb leer gesaugt. Geld, das zuvor in der Regel bei Medienunternehmen ausgegeben wurde – nur dass Google und Facebook selbst keine Inhalte produzieren. Selbst die lange resistent scheinende Fernsehwerbung beginnt zu schwächeln. Wachstum im Werbemarkt findet etwa seit 2016 weitgehend auf Plattformen statt, alle anderen befinden sich entweder noch im Sink- oder schon im Sturzflug.
Diese Marktbeherrschung und das aggressive Gebaren der Plattformen haben eine merkwürdige Volte der Kapitalismuskritik hervorgebracht: Großkonzerne des 20. Jahrhunderts plädieren traurig-trotzig für Gerechtigkeit, vor allem ihnen selbst gegenüber. Sie fanden wenig regulierte Märkte so lange gut, wie sie davon profitierten. Nun schreien sie nach der Politik weil sie von Google, Facebook, Amazon selbst eine Lektion in neoliberaler Marktkunde erhalten haben.
Auf der anderen Seite findet man einen Teil der Zivilgesellschaft, der aus schwer nachvollziehbaren Gründen bereit ist, Digitalkonzernen fast alles durchgehen zu lassen."

*(s.o.)
(Sascha Lobo: Realitätsschock, S.358/59)

Sieh auch:
Sascha Lobo über Kylie Jenner

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