Mittwoch, 13. November 2019

Query-Realität

Michael Seemann hat herausgefunden, dass über das Internet eine neue Art von Öffentlichkeit entsteht:

"Eine dritte Form von Öffentlichkeit hat sich längst parallel gebildet. Nur war sie mit herkömmlichen Denkungsarten des Medienverständnisses nicht beobachtbar.

  • Die Öffentlichkeit der Google-Suche: Egal, ob ein Blog 3 oder 300.000 Leser am Tag hat. Wenn es über mich schreibt, wird derjenige, der nach meinem Namen sucht, den Eintrag finden. Denn die Kombination seiner Suchworte bestimmt diese Öffentlichkeit. 
  • Die Öffentlichkeit der eigenen Twitter-Timeline. Es lesen nicht viele Menschen, was ich twittere, das ist auch nicht nötig. Es abonnieren sich meinen Twitter-Stream nämlich nur diejenigen, die sich wirklich dafür interessieren, was ich schreibe. Die Öffentlichkeit meiner Twitter-Nachrichten strukturiert sich aus der Konfiguration ihrer Abonnemententscheidungen. 
  • Die Öffentlichkeit des Data-Minings. Auch das gehört dazu, dass die Daten, die ich preisgebe, nicht nur in der Weise genutzt werden, wie ich es mir im Vorhinein vorstelle. Sondern dass sie angereichert werden mit anderen Daten und dass darauf Anfragen getätigt werden, von denen ich heute keine Vorstellung habe. 

Die Öffentlichkeit meiner Daten bestimmt sich aus der Geschicklichkeit der verknüpfenden Algorithmen solcher Dienste. Kurz: Man muss im Internet die Öffentlichkeit von der anderen Seite, der Seite des Empfängers, aus neu denken. «Query» bezeichnet in der Datenbanktechnik eine Anfrage beliebiger Komplexität an einen Datensatz. Die neue Struktur von Öffentlichkeit nenne ich deswegen «Query-Öffentlichkeit»."
(Seemann: Vom Kontrollverlust zur Filtersouveränität In: #public_life: Digitale Intimität, die Privatsphäre und das Netz Heinrich-Böll-Stiftung Berlin 2011. S. 74–79)

Dazu schreibt Sascha Lobo in "Realitätsschock":
"Das bedeutet, dass quer durch die sozialen Medien ein gigantischer Sturm der Empörung gehen kann – von dem die meisten Nutzer nichts mitbekommen. Bis sie auf ein Stichwort klicken oder zufällig jemanden abonniert haben, der sich an der Empörung beteiligt. Enge Kontakte und Freunde können in einem zerstörerischen Sturm der Empörung stehen, ohne dass man es zwingend bemerken muss, obwohl man zur gleichen Zeit auf demselben Netzwerk unterwegs ist." (S. 312/313)

Das mag bei Empörungsstürmen nicht einmal so problematisch zu sein. Ganz gefährlich wird es, wenn Netzteilnehmer bösartigen Pranks (sieh auch:  Pranknetund Swatting ausgesetzt sind.*

Aber auch bei Empörungsstürmen, die sinnvoll und moralisch gerechtfertigt erscheinen, kann leicht eine Grenze überschritten werden denn "Zwischentöne funktionieren auf Twitter so gut wie Schwimmflügel bei einem Eisenbahnunfall." (Lobo in "Realitätsschock", S.315)

*Dabei ist zu beachten: 
"[...] für Erwachsene ist Datenschutz, Persönliches vor dem Staat und Unternehmen verbergen zu können. Für Kinder und Jugendliche aber bedeutet Datenschutz, Persönliches vor den Eltern verbergen zu können." (Sascha Lobo in "Realitätsschock", S.374)
Zum Beispiel, wenn man Social-Media-Verbot hat. Dann kann es passieren, dass das Kind Belastungen ausgesetzt ist, die die Eltern ihrem Kind unbedingt ersparen wollen. Aber sie erfahren nichts darüber.

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