Montag, 18. September 2017

Karl Heinz Bohrer

Karl Heinz Bohrer : Von der Erotik des Denkens Interview vom 30.7.2012

" [...] Bohrer: [...]  Ich mache zwischen dem Erotischen und dem Ästhetischen keinen speziellen Unterschied mehr. [...]  
Außenseitersein gehört ja mehr oder weniger zum Selbstverständnis des modernen Intellektuellen. Die Frage ist, wie dieser Typus des Unabhängigen, der einst so originell war, heute noch aktualisiert werden kann. Nietzsches Unterscheidung zwischen "freiem Geist" und "Freigeist" ist da entscheidend.
Die Welt: Also alles, nur keine Rücksicht auf andere Denker und Ideen?
Bohrer: Nein. Ohne Rücksicht auf anderes Denken lässt sich nicht denken. Aber Rücksichtslosigkeit ist wichtig. [...]
Dieses Prinzip der schieren Beobachtung und nicht der synthetisierten oder deduktiven Form der Zeitkritik finde ich in der Tat eine interessante Möglichkeit des Journalismus. Aber: zwischen journalistischer Beschreibung von Augenblicken der Wirklichkeit einerseits und den ästhetischen Augenblicken an die ich hier denke, besteht kein Zusammenhang. Im einen Fall handelt es sich um eine pragmatische Form von Wirklichkeitsbestimmung, wenn möglich ohne ideologische Formelsprache. Das ist dann guter Journalismus. Im anderen Fall handelt es sich um Denkakte von enormem Ausmaß, die sich mit der großen Geistestradition des von Platon bis Hegel formierten Idealismus auseinandersetzen – und in einer Kühnheit darauf bestehen, dass die Welt eigentlich nur in Ausdrucksformen und nicht in Ideen fassbar ist: Darin liegt die Provokation für das intellektuelle Feuilleton. [...]
Die Welt: Ihnen ist damals von Ihrem Kollegen Marcel Reich-Ranicki vorgeworfen worden, Sie würden mit dem Rücken zum Publikum schreiben.
Bohrer: Das habe ich als einen wohltuenden Satz empfunden! Das ist der einzige Satz in seiner Biographie über unser Verhältnis und ich dachte sofort: er hat Recht. Darin lag ja auch ein gewisser Stolz. Ich fand von Anfang an, dass es für den Literaturkritiker und Chef des Literaturblatts der "F.A.Z." wichtiger ist, das zu denken, was relevant zu denken ist, und nicht das zu denken, was möglicherweise eine Mehrheit gut versteht. [...]
Die Welt: So wie Sie sprechen, über das Momentane, Plötzliche, Tat, Erscheinung, Emphase und Erotik im Denken: Ist der Appeal des Denkens nicht eindeutig männlich gepolt?
Bohrer: In der Tradition wahrscheinlich. Und ich muss auch zugeben, dass ich noch sehr geprägt worden bin durch eine "male chauvinist" Kulturvorstellung und maskuline Rede. Die Heroen der Intellektualität in meiner frühen Erziehung waren natürlich männlich. Und in der Emphatik des Selbstdenkers steckt ein Moment heroischer Selbstidentifikation, die Identifikation von Männlichkeit und Intellektualität drin. Sie meinen, was ich über Selbstdenker sage, ist einer maskulinen Ideologie entsprungen? [...]
Diese Zusammenkünfte linker Akademiker zu Salzstangenpartys, wo es noch nicht die dampfenden Essen gab, die es dann später als Charakteristikum der Linken gab, diese Treffen, bei denen sie sich zum Sichempören über soziale Untaten in der Gesellschaft wie fromme Christen in den Katakomben zusammenfanden: Dieser Aspekt der Achtundsechziger-Kulturrevolution hat in der Tat überhaupt keine erotischen Züge. Das waren Protestanten einer neuen Religion. [...]
Habermas war der scharfsinnige linksliberale Analytiker der Gesellschaftssituation par excellence, der sich von der Mehrheit der Utopiker strikt unterschied. Wenn auch sein wichtigstes Buch "Strukturwandel der Öffentlichkeit" damals zu einem Katechismus der linken Bewegung geworden war. Aber noch wichtiger: Habermas war die Erscheinung des freimütigen, in Deutschland so noch nie gesehenen Intellektuellen!
 Witzig und ernst zugleich, temperamentvoll und streng in Einem. Und: er hatte enormen Stil in seiner partiell frustrierend schwierigen Diktion. [...]
Ich bevorzuge eine nichtrealistische Literatur – zum Beispiel die surrealistische oder Claude Simon oder Cortázar oder Pynchon – die nicht als Diagnostik der Gesellschaft bestimmt werden kann. [...]

Sieh auch:
Jetzt: Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie, 2017
Kundenrezensionen
Leseprobe
Michael Krüger

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen