Freitag, 16. September 2016

Kershaw über Antisemitismus

"Antisemitismus war ein neuer Begriff für ein altes, auf dem Kontinent weitverbreitetes Phänomen: den Hass auf Juden. Die traditionelle christliche, seit Jahrhunderten bestehende Feindseligkeit gegenüber »den Mördern Christi« hielt sich hartnäckig und wurde vom christlichen Klerus gepflegt - vom protestantischen ebenso wie vom katholischen und vom orthodoxen. Ein anderes, tief verwurzeltes Element dieses Hasses rührte aus uralten ökonomischen und sozialen Ressentiments, die neue Nahrung erhalten hatten, weil es die in jüngerer Zeit gewährten Freiheiten den Juden erlaubt hatten, in größerem Umfang am Geschäfts- und Kulturleben teilzunehmen. Bald schon provozierte das Reaktionen: Bei jedem wirtschaftlichen Abschwung wurden die Juden zum Sündenbock gemacht. Vom ausgehenden 19. Jahrhundert an wurden die alten, oft bösartigen Formen des Judenhasses von etwas noch Ärgerem überlagert. Nun nämlich vermengten sie sich mit neuen, potenziell mörderischen Rassenlehren, die eine pseudowissenschaftliche, biologische Rechtfertigung für Hass und Verfolgung boten. Die ältere Diskriminierung, die zweifellos schon schlimm genug gewesen war, hatte es Juden gestattet (sie manchmal auch gezwungen), zum Christentum zu konvertieren. Das schloss der wissenschaftlich verbrämte, biologische Antisemitismus aus. Ihm zufolge waren Juden rassisch, »ihrem Blut nach« anders. Ein Jude, so hieß es, könne ebenso wenig zum Franzosen oder Deutschen werden, wie beispielsweise eine Katze zu einem Hund gemacht werden könne. Es war eine Doktrin, die nicht nur auf Diskriminierung hinauslief, sondern auf totalen Ausschluss. Und sie führte potenziell auf den Weg physischer Vernichtung."
(Ian Kershaw: Höllensturz.  Europa 1914 bis 1949, dva 2016 S.36)

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