Sonntag, 25. September 2016

Kershaw: Staat unter Druck (Folgen des 1. Weltkriegs)

Der Krieg setzte alle beteiligten Staaten, selbst jene, die sich schließlich
als siegreich erwiesen, unter noch nie dagewesenen Druck. Ob sie
neu waren oder enorm erweitert, für alle Aufgaben wurde in einern
Konflikt dieses Ausmaßes der Staat verantwortlich. Er musste Soldaten
in immer größerer Zahl für die Front mobilisieren, ihnen Unmengen
Waffen und Nachschub bereitstellen. Nach zwei Jahren Krieg
war ein hoher Anteil der männlichen, wehrfähigen Bevölkerung
jedes Landes zum Militärdienst eingezogen. (Großbritannien, das mit
einer Freiwilligenarmee in den Krieg eingetreten war, führte 1916 die
Wehrpflicht ein.) Um die kämpfende Truppe auszurüsten, musste die
Massenfertigung von Waffen in Gang gesetzt werden; zudem waren
Erforschung und Entwicklung neuer Technologien und innovativer
Waffentypen zu finanzieren. Die Zahl der Krankenhäuser, von improvisierten
Pflegeeinrichtungen und Erholungsheimen musste enorm
gesteigert werden, damit die große Zahl Verwundeter und Verstümmelter,
die von der Front zurückkamen, versorgt werden konnte. Die
öffentliche Fürsorge, wie unzulänglich sie auch sein mochte, für Witwen
und Familien, die ihrer Ernährer beraubt waren, musste bereitgestellt
werden. Nicht zuletzt war durch staatliche Propaganda und
Zensur die öffentliche Meinung zu orchestrieren, für die Kampfmoral
zu sorgen und die Verbreitung von Informationen durch direkte oder
indirekte Einflussnahme auf die Presse zu kontrollieren.
All das machte eine gelenkte Wirtschaft erforderlich, verlangte
beträchtlich erhöhte Staatsausgaben. Die Rüstungsausgaben allein
erreichten gegen Ende des Krieges ein beispielloses Niveau: 59 Prozent
des deutschen, 54 Prozent des französischen und 50 Prozent
des britischen Bruttoinlandsprodukts (wobei weniger entwickelte
Volkswirtschaften wie die Russlands, Österreich-Ungarns oder des
Osmanischen Reiches weniger abschöpfen konnten). Den Bürgern
wurden neue oder erhöhte Steuern aufgebürdet. Großbritannien
war relativ erfolgreich darin, Kriegskosten durch Steuern zu finanzieren,
Deutschland und insbesondere Frankreich sträubten sich
stärker dagegen, ihre Bürger zu besteuern - in der Vorstellung, der
Feind würde nach dem Sieg Reparationen für den Konflikt zu zahlen
haben. Der größte Teil der Kriegskosten wurde durch Kreditaufnahme
gedeckt. Die Alliierten liehen sich die Mittel vor allem bei den
Vereinigten Staaten. Österreich besorgte sich Darlehen in gewissem
Umfang in Deutschland. Doch als sich der Krieg hinzog, wurde es für
Deutschland unmöglich, irgendwo im Ausland Kredite aufzunehmen;
die deutschen Kriegsanstrengungen mussten also zunehmend über
inländische Kriegsanleihen finanziert werden. Kampagnen zur Zeichnung
von Kriegsanleihen fanden in allen kriegführenden Staaten
statt. Überall stieg die Staatsverschuldung gewaltig an. Wenn weder
Kreditaufnahme noch Steuern genügten, druckten die Staaten Geld,
verschoben das Problem also auf später.
So, wie die staatliche Lenkung der Wirtschaft und die Eingriffe ins
zivile Leben intensiver wurden, wuchs auch der Staatsapparat. Büro
kratien wurden ausgebaut, Überwachung, Zwang und Repression
nahmen zu. »Feindliche Ausländer« wurden interniert, in manchen
Regionen, insbesondere in Osteuropa, ganze Bevölkerungen vertrieben.
Bis sich die Russen 1915 aus Westpolen und Litauen zurückzogen,
dabei »verbrannte Erde« hinterließen, hatten sie mindestens
300000 Litauer, 250000 Letten, 350000 Juden (die besonders schwer
misshandelt wurden) und 743000 Polen ins russische Hinterland
deportiert. Anfang 1917 lebten in russischen Städten zusätzlich zu
den immer größere Not leidenden Massen rund sechs Millionen Vertriebene
- Flüchtlinge aus dem Kaukasus und aus den Grenzgebieten
im Westen ebenso wie Zwangsdeportierte.
Überall musste der Staat für Unterstützung sorgen, speziell für die
Industriearbeiterschaft, zu der nun auch in großer Zahl Frauen in
der Rüstungsproduktion gehörten.
(Jan Kershaw: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, dva 2016, Kapitel 2, S.115-117)

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