"Das Bürgertum als Schicht oder Klasse entzieht sich dem definitorischen Zugriff." (S.1080)
"Der Bürger will gestalten und organisieren, er hat einen hohen Begriff von seiner Verantwortung und will [...] mithelfen, dem gesellschaftlichen Leben eine Richtung zu geben." (S.1081)
Hartmut Kaelble schlägt vor, "zwischen einem bürgerlichen Milieu im engeren Sinne, d.h. der 'oberen Mittelschicht', und einem kleinbürgerlichen Milieu zu differenzieren." (S.1083)
"Das Kleinbürgertum war eine besonders wenig internationale Schicht" (S.1083)
"Der Kleinbürger hat nicht den Ehrgeiz, Urheber und Träger einer überlegenen Kultur zu sein. Daher investiert er nicht viel von seinem kulturellen Kapital in Bildung, hat ein pragmatisches Verhältnis zu ihr, insofern sie - eher als Ausbildung - den Nachkommen nutzen* könnte. Kleinbürger sind freilich zu politischem Kollektivhandeln fähig. Wenn sie wichtige Kanäle der gesellschaftlichen Zirkulation kontrollieren, können sie mehr Macht ausüben als mancher Industriekapitän. Streiks von Basarkaufleuten oder Boykotte durch Kleinhändler in chinesischen Hafenstädten haben immer wieder politischen Druck erzeugt." (S.1084)
"Die große internationale Erfahrung von Kleinbürgern war der Krieg." (S.1084)
"Statt wie der Adlige auf die Ehre achtet der typische Bürger auf Respektabilität" ("Sorge um den guten Ruf") (S.1085)
Die "wirtschaftliche Ausdrucksform [der Respektabilität] ist die Kreditwürdigkeit" (S.1085) [Wer bei der Schufa in Ungnade geraten ist, verliert Status wie der Höfling am absolutistischen Hof. (zugegebenermaßen nur tendenziell)]
Im 19. Jahrhundert gilt: "Ein Bürger ist, wessen Frau und Töchter den Erwerb in fremden Diensten nicht nötig haben." (S.1085) [Das gilt für den davon von Osterhammel abgrenzend beschriebenen Kleinbürger nur bedingt.]
"Im 'bürgerlichen Zeitalter' bildeten Bürger von 'Besitz und Bildung' eine winzige Minderheit unter der Weltbevölkerung." (S.1086)
"Nirgendwo sonst als in Westeuropa und den neo-europäischen Siedlergesellschaften scheint es die Vorstellung gegeben zu haben, die Mitte der sozialen Hierarchie könne dem gesellschaftlichen Ganzen ihre Ideale der Lebensführung aufprägen." (S.1087)
"Für autonome Systemer privater Marktregelung fehlten im 19. Jahrhundert im überwiegenden Teil der Erde die institutionellen Voraussetzungen.
Daher waren voll entwickelte 'bürgerliche Gesellschaften', zumal solche, in denen auch das politische System 'verbürgerlicht' war, auf der Welt sehr selten." (S.1090)
Quasi-Bürger
Außerhalb Europas gab es daher im wesentlichen nur "Quasi-Bürger" ohne politische Mitwirkung. "Nichteuropäische Quasi-Bürger übten seit Beginn des Handelskontakts mit Europa oft vermittelnde Komprador-Funktionen aus. [...] Sie ermöglichten überhaupt erst den Austausch zwischen unterschiedlichen Geschäftskulturen, etwa der indischen oder chinesischen [...] und der westlichen." (S.1091)
"Emigrierte Chinesen waren [...] in allen Ländern Südostasiens als kommerzielle [...] Geschäftsminderheiten zu finden. [...] In der niederländischen Kolnie Java war zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahezu der gesamte Binnenhandel in chinesischer Hand. Die Kolonialmacht verließ sich bei der Ausbeutung der Insel fast ganz auf eine Minderheit". (S.1092) Diese Minderheit blieb "für das Kolonialsystem unentbehrlich". Der "russische Weizenexport über Odessa in die USA [lag] zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Händen griechischer Kaufmannsfamilien, die vorwiegend von der Insel Chios stammten." (S.1092)
"Bürgerlichkeit in Asien und Afrika bedeutete seit dem späten 19. Jahrhundert [...] Anschluss an einen Prozess der 'Zivilisierung' der Sitten und Lebensformen zu finden." (S.1094) Politische Macht wurde nicht ernsthaft angestrebt.
[...] "generell bedurfte es als Anstoß der Revolutionen des 20. Jahrhunderts (einschließlich der Dekolonisation nach 1945), um politische Räume für eine bürgerliche Politik der 'Zivilgesellschaft' zu öffnen." (S.1095)
Bildungsbürger
[...] der Bildungsbürger [...] war eine mitteleuropäische, ja eine deutsche Sonderentwicklung. [...] Das Bildungsbürgertum schuf sich in Deutschland, auf der Grundlage der neuhumanistischen Bildungsreform nach 1810 und vielfach auf dem Weg durch das protestantische Pfarrhaus, seinen eigenen Entfaltungsraum". (S.1096)
"In China entstand [...] kein politisch indifferentes oder quietistisches Bildungsbürgertum, sondern eine stark politisierte, auf die großen Städte konzentrierte Intelligenzschicht, aus der später fast alle Führer der kommunistischen Revolution hervorgingen. [...] Das europäische Bildungsbürgertum, selbst in seiner deutschen kulturprotestantischen Ausprägung, setzte die Aufklärung und Religionskritik voraus. (S.1097)
"Die große britische, deutsche, nordamerikanische und selbst belgische oder schweizerische Geschäftsbourgeoisie operierte um 1900 in Reichweiten, die jeder früheren Elite unvorstellbar gewesen wären." (S.1101)
"Neben die klassische bürgerliche Hochkultur und die entstehende Massenkultur trat um die Jahrhundertwende als dritte Position im kulturellen Feld die Avantgarde hinzu."(S.1102)
"Der klassische Bürger ist ein Stadtmensch, kein Vorortbewohner." (S.1102)
Die Krise des Bürgertums "ging in die gewaltige Expansion von Mittelklassengesellschaften nach 1950 über, die das Tugend- und Respektabilitätsdenken des 'klassischen' Bürgertums durch Konsumorientierung ersetzten." (S.1103)
Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, Frankfurt 2009
*Der ehemalige Yale-Professor William Deresiewicz unterstellt, dass auch in der oberen Mittelschicht inzwischen die Statusängste so groß sind, dass selbst an den amerikanischen Eliteunis der Nutzen der Ausbildung wichtiger genommen wird als Bildung und dass deshalb dort ein ungesunder Konformismus entstehe. Mehr dazu
Literatur:
Franco Moretti: Der Bourgeois, dt. Berlin 2014, engl.2013
(https://en.wikipedia.org/wiki/Franco_Moretti)
Simon Schama: Der zaudernde Citoyen (1989)
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