Mittwoch, 7. Mai 2025

8. Mai 1945: Tag der Befreiung – wovon?

 Aleida Assmann8. Mai 1945: Tag der Befreiung – wovon? FR 5.5.2025

"Es brauchte vier alliierte Armeen, um das Hitlerreich in die Knie zu zwingen, in dem sich Deutschland und Österreich verbündet hatten. Deshalb wurde der 8. Mai in Deutschland zunächst als „Tag der Niederlage“ erfahren. Das Wort „Befreiung“ hatte nur für einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung einen Sinn, für den sich an diesem Tag die Tore der zahlreichen KZs öffneten, mit denen das ganze Land übersät war. [...] 

Deshalb war der 8. Mai 1945 in Deutschland auch kein Tag zum Feiern, sondern zum Fürchten. Die Hierarchien der Macht waren plötzlich auf den Kopf gestellt. Das Lügengebäude der Propaganda fiel in sich zusammen. Es gab keine Parole mehr, hinter der man sich noch verschanzen konnte. Statt Sicherheit und Versorgung herrschte bittere Not und Gefahr. Und hinzu kam, dass all das, was man gemeinsam verheimlicht und vor sich selbst verschwiegen hatte, plötzlich öffentlich wurde, als die Bilder der befreiten Konzentrationslager um die Welt gingen.

Die Wirkung dieser Offenlegung hat Thomas Mann in seinem Roman Doktor Faustus (1947) als ein Trauma der kollektiven Schuld beschrieben: „Der dickwandige Folterkeller, zu dem eine nichtswürdige, von Anbeginn dem Nichts verschworene Herrschaft Deutschland gemacht hatte, ist aufgebrochen, und offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt.“ Der Autor, der die NS-Zeit im Exil erlebt hatte, schloss sich mit diesen Worten explizit in das nationale Wir des deutschen Schuld-Kollektivs ein. [...]

Nach Ende des Krieges sammelten sich in der DDR viele ehemalige Regimegegner und Widerstandskämpfer. Sie nahmen das Angebot der Sieger dankbar an und feierten kontinuierlich den Ruhm der sowjetischen Armee am 8. Mai. Im Westen Deutschlands gab es ein anderes Angebot von den Alliierten: das Schweigen. Im Schutze des Schweigens, so hoffte Adenauer, würde sich die Verwandlung von der NS-Diktatur in eine Demokratie vollziehen. Das Schweigen war der Kokon, in dem sich die Deutschen erneuern, sprich: demokratisieren sollten. Das jedenfalls war das Programm der Schlussstrich-Politik von Adenauer bis zu Kohl in Bitburg, die auf Zukunft setzte und die Vergangenheit ruhen ließ. 

Es verwundert deshalb nicht, dass der 8. Mai in Westdeutschland zunächst eingeklammert und anders als in der DDR auch nach zehn oder 20 Jahren nicht begangen wurde. Der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann machte 1970 einen Versuch, fand für seine Initiative aber noch kaum Resonanz. Im Westen blieb der 8. Mai für die überwältigende Mehrheit der Deutschen der Tag der Niederlage.[...]

Das änderte sich erst vier Jahrzehnte später, als Präsident Richard von Weizsäcker an diesem Tag seine Rede im Bonner Bundestag hielt. In dieser Rede schlug er sich und den Deutschen behutsam vor, diesen Tag nicht mehr nur als Tag der Niederlage zu verstehen, sondern ihn endlich auch als einen Tag der Befreiung anzunehmen. Weizsäcker bot den Deutschen eine europäische Perspektive für ihre Nationalgeschichte an. Er sprach nicht nur von Befreiung, sondern auch von „Erlösung“ und griff dabei auf ein ganz neues Vokabular mit religiösen Obertönen zurück. Dieses Vokabular hatte genau 20 Jahre zuvor der spätere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda eingeführt, als er sich 1965 leidenschaftlich gegen die Verjährung der Nazi-Morde einsetzte. Benda sprach von einem Akt der (nachträglichen) Selbst-Befreiung von den Nazi-Mördern und zitierte einen Satz aus Yad Vashem: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Vergessen verlängert das Exil.

Das Thema „Erinnerung“ kam jedoch erst mit der Weizsäcker-Rede zur Geltung. Auch in Adornos Rede über die „Erziehung nach Auschwitz“ (1967) kam es nicht vor. Vorerst standen noch die verkörperten Erinnerungen der Kriegsgeneration im Vordergrund. Zu ihr gehörte auch Weizsäcker, der nach dem Krieg 25 Jahre alt war und bei den Nürnberger Prozessen im Verfahren gegen seinen Vater als Anwalt der Verteidigung aufgetreten war. [...]"

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