"Die Beziehung zwischen dem weiten Netz des Lebens und dem Kapitalismus ist Gegenstand dieses Buches. Der Kapitalismus grenzt zwangsläufig an eine größere Welt der Lebenserzeugung. Für ihn kommt es darauf an, dass die Zahlen, die in Geschäftsbücher Eingang finden - Arbeiter sind zu entlohnen und mit angemessener Nahrung zu versorgen, Energie und Rohmaterial müssen eingekauft werden -, möglichst niedrig ausfallen. Der Kapitalismus kann nur bewerten, was sich auch zählen lässt, und zählen lassen sich Dollars oder Euros. Jeder Unternehmer will so wenig wie möglich investieren und so viel Rendite wie möglich erzielen. Das Gesamtsystem gedeiht, wenn mächtige Staaten und Kapitalgeber die Natur im globalen Maßstab umorganisieren können, möglichst wenig investieren müssen und möglichst wenigen Hindernissen begegnen, während sie so viel Nahrung, Arbeit, Energie und Ressourcen erhalten wie möglich." (S.32-33)
"Unser Blick auf Kapitalismus, Lebenserzeugung und die sieben billigen Dinge folgt einer Perspektive, die wir als «Weltökologie» bezeichnen. Statt mit der Abspaltung der Menschen vom Netz des Lebens zu beginnen, wollen wir fragen, welchen Platz Menschen- und ihre von Macht und Gewalt, Arbeit und Ungleichheit geprägten Organisationsformen - innerhalb der Natur einnehmen. Der Kapitalismus ist nicht nur Teil einer Ökologie, er ist eine Ökologie - ein Bündel von Beziehungen, in dem Macht, Kapital und Natur miteinander verflochten sind. [...] Das Konzept der Weltökologie schärft unseren Blick dafür, wie die von Gewalt und Ausbeutung geprägten Beziehungen der modernen Welt in fünfhundert Jahren Kapitalismus verankert sind und inwiefern diese Organisationsformen der Ungleichheit - selbst die, die uns heute zeitlos und
notwendig vorkommen - gerade keine Notwendigkeit darstellen und im Zentrum einer nie dagewesenen Krise stehen. Weltökologie eröffnet aber nicht nur eine neue Sicht auf den Kapitalismus, die Natur und die Richtungen, in die sich unsere Welt in Zukunft entwickeln könnte. Weltökologie zeigt auch, wie Menschen im Laufe der Moderne ihre Umwelt schufen und wie Umweltbedingungen im Gegenzug die Menschen prägten. Dies schafft den nötigen Freiraum, um darüber nachzudenken, wie unsere traditionelle Betrachtungsweise des ökologischen, wirtschaftlichen und sonstigen Wandels selbst mit den Krisen unserer Zeit verflochten ist. Dabei geht es auch darum, das Verhältnis zwischen der Benennung einer Sache und dem Handeln in der Welt zu verstehen. Bewegungen, die für soziale Gerechtigkeit eintreten, bestehen seit jeher auf der «Benennung des Systems», weil Denken, Sprache und Befreiung eng verknüpft und von fundamentaler Bedeutung für die Ausübung von Macht sind. Weltökologie führt uns vor Augen, inwiefern Konzepte, die wir als gegeben voraussetzen - allen voran Natur und Gesellschaft - problematisch sind. Sie vernebeln nicht nur den Blick auf das Leben im Einzelnen, sondern auch auf die Geschichte als Ganze, weil sie aus der Gewalttätigkeit von Kolonialismus und Kapitalismus hervorgegangen sind. [...] Die Spaltung von Natur und Gesellschaft bildete die Basis für eine neue Kosmologie,in der der Raum flach, die Zeit linear und die Natur äußerlich war. [...]
Anders als neoliberales Geschwätz uns glauben machen möchte, sind Unternehmen und Märkte allein längst nicht dazu in der Lage, den Kapitalismus am Laufen zu halten. Kulturen, Staaten und wissenschaftliche Komplexe müssen zusammenwirken, damit Menschen sich Geschlechts-, Rassen- und Klassennormen fügen. Neue Ressourcenquellen müssen kartiert und gesichert, wachsende Schulden zurückgezahlt und Währungen verteidigt werden. Die Weltökologie leitet dazu an, diese Zusammenhänge zu erkennen, das Leben und die Mühen der Menschen wie anderer Lebewesen im Netz des Lebens in Erinnerung zu rufen - und neu zusehen.(S.54-56)
Im Folgenden wird ausgeführt, dass ein grundsätzlicherer Wandel nötig sei:
"Wir bestreiten nicht, dass die Politik, wenn sie sich um Veränderung bemüht, die Leute dort abholen muss, wo sie sich gerade befinden. Aber wir können uns nicht länger mit den Abstraktionen zufriedengeben, die der Kapitalismus aus Natur, Gesellschaft und Wirtschaft gemacht hat. Wir müssen eine Sprache und eine Politik für neue Zivilisations- und Lebensformen finden, die den durch die kapitalistische Ökologie verursachten Zustandswechsel überdauern. Deshalb formulieren wir am Ende dieses Buches eine Reihe von Ideen, die helfen sollen, auf dem Weg der Reparation den Platz des Menschen in der Natur neu zu bestimmen. Nur das Eingeständnis jahrhundertelanger Ungerechtigkeit und Ausbeutung ermöglicht dem Menschen die Rückkehr in das Netz des Lebens. " (S.60).
Kapitel 2: Geld:
"Was am Kapitalismus neu ist, ist nicht sein Streben nach Profit, sondern das Beziehungsgefüge zwischen Gewinnstreben, Finanzierung und Regierungen. Diese Beziehungen sollten den Planeten umgestalten [...] Weder Weltmarkt noch Weltmacht kamen ohne das Finanzwesen aus. Es war für imperiale Ambitionen und den Güteraustausch unverzichtbar, ohne diese beiden Kräfte aber auch machtlos. " (S.91)
"Im Laufe der Geschichte haben sich billiges Geld und neue Grenzziehungen immer wieder gegenseitig befeuert. Wenn die Renditechancen in einer etablierten Produktions- und Abbauregion zurückgingen, zogen Kapitalisten ihre Gewinne ab und steckten sie in den Geldhandel. Und so setzte nach jedem großen Boom der Weltwirtschaft - für die Holländer Mitte des 17.Jahrhunderts, für die Briten Mitte des 18.Jahrhunderts und für die Amerikaner im Zuge des Nachkriegsbooms - ein Prozess ein, den Sozialwissenschaftler «Finanzialisierung» nennen. In solchen Perioden lassen Kapitalisten von älteren und weniger profitablen industriellen und gewerblichen Aktivitäten ab und wenden sich Formen des Geldhandels zu. " (S.93)
Mangel an Silber habe die notwendige Absicherung des Papiergeldes untergraben:
"Der Silberboom sorgte nicht nur für reichlich Geld- auch eine der ersten modernen Arbeiterklassen und der früheste große Arbeiter- und Bauernaufstand der Moderne, der Deutsche Bauernkrieg von 1525, gehen auf sein Konto." (S.99)
"Die Uhr - und nicht das Geld wurde zu der Schlüsseltechnologie, mit der sich der Wert von Arbeit messen ließ. Diese Klarstellung ist sehr wichtig; denn es wäre zu kurz gedacht, in der Lohnarbeit das Charakteristikum des Kapitalismus zu sehen. Sie ist es nicht: Schon im England des 13.Jahrhunderts war ein Drittel der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung auf Lohnarbeit angewiesen, um zu überleben," Dass Löhnen damit eine so entscheidende Rolle bei der Strukturierung von Leben, Raum und Natur zukam, ist einem neuen Modell von Zeit geschuldet. " (S.133)
«Die Spezialisierung nach Fertigkeit und Aufgabe und die Unterteilung der Arbeitskräfte nach Alter, Geschlecht und körperlicher Verfassung in Gruppen, Schichten und Kolonnen, verbunden mit einem starken Akzent auf Pünktlichkeit und Disziplin, das sind Merkmale, die man eher in der Industrie als in der Landwirtschaft erwartet», wie Sidney Mintz feststellt, und das gilt insbesondere vor der industriellen Revolution." Der Zuckeranbau bereitete nicht nur der heutigen industriellen Landwirtschaft den Weg,sondern auch der modernen Fabrik.Die Zuckerplantagen der Frühmoderne waren bereits hochmechanisiert und mit großen, brennstoffintensiven Heizkesseln und Hochleistungswalzmühlen ausgestattet, die den Zuckerrohrsaft aus den Stängeln pressten. Sie leisteten damit einer «Vereinfachung» Vorschub - einer Vereinfachung einzelner Handlungen, indem Arbeitern (zumeist Sklaven)einfachere Aufgaben zugewiesen wurden, und einer Vereinfachung der Felder, die auf Zuckerrohr-Monokulturen umgestellt wurden. So wie heute Arbeiter in der Automobilindustrie am Fließband einfache und austauschbare Teile montieren und Angestellte in Fastfood-Restaurants standardisierte Burger zubereiten, verrichteten auch afrikanische Sklaven sehr kleinteilige Aufgaben in einer vereinfachten Zucker-Monokultur-Landschaft.
Das Verhältnis von Arbeit, Natur und dieser modernen Logik der Vereinfachung erlaubt es uns, eine längere Entwicklung zu überblicken. Die Grenzräume des frühen Kapitalismus, in denen Zucker, Silber, Kupfer, Eisen, Forstprodukte, Fische und sogar Getreide produziert wurden, waren Experimentierfelder, auf denen Strategien der Arbeitskontrolle erprobt werden konnten. (S.134/35)
"«Jobs»und«Umwelt»als Streitobjekte in einem Nullsummenkonflikt zu sehen ist ein analytischer Irrtum.42 (S.136)
" Der Fordismus kam auf der Farm zur Welt. Seine Neuerungen bauten unmittelbar auf der Industrialisierung der Familienfarmen des 19.Jahrhunderts auf, auf den Verschiebungen, die eine solche Landwirtschaft anstieß, und auf den Technologien, die in der nachgelagerten lebensmittelverarbeitenden Industrie entwickelt wurden - wohl vor allem auf der «disassembly line», in der Fleisch zerlegt wird. (S.139)
"Frauen, die ihre Baumwollmühlen auf Rhode Island verließen, führten 1824 den ersten Streik in der Geschichte der USA an. Es dürfte kein Zufall sein, dass am anderen Ende der Herstellungskette, nämlich auf den Feldern, auf denen die Baumwolle gepflückt wurde, Sklaven rebellierten." S.141)
In den Anfängen des Kapitalismus wurden dieselben Strategien, mit denen man Ureinwohner in das Gehege der Natur einpferchte, auch dazu eingesetzt, eine Kategorie von Menschen aufzubauen und zu lenken, die unbezahlte Fürsorgearbeit leisten sollten: die Frauen. Menschen wurden, manchmal ärztlich, aber immer rechtlich, einer von zwei unvermeidlichen Kategorien zugewiesen, sie waren entweder Männer oder Frauen. Allgegenwärtige Dualismen wie Gesellschaft und Natur, Mann und Frau, bezahlte und unbezahlte Arbeit verengten das Denken der Menschen in der kapitalistischen Weltökologie so, dass lediglich Lohnarbeit als «wirkliche Arbeit» wahrgenommen wurde - ohne anzuerkennen, dass die Fürsorgearbeit all dies erst ermöglichte. Damit soll keineswegs behauptet werden, dass damals wie heute alle Frauen Fürsorgearbeit leisten oder dass Fürsorgearbeit notwendig eine Sache der Frauen ist. Vielmehr geht es darum zu verdeutlichen, wie die kapitalistische Weltökologie dazu geführt hat, dass solche Verquickungen als normal erscheinen. Eine Geschichte der Arbeit zu schreiben, ohne die Fürsorgearbeit zu erwähnen, wäre, wie eine Ökologie der Fische zu schreiben und das Wasser wegzulassen. Von Beginn an hatte die kapitalistische Ökologie ein reges Interesse an Sex, Macht und Fortpflanzung - und es ist gerade der Umstand, dass das Wissen um dieses Interesse und seine Geschichte so gründlich unterdrückt und allzu leicht vergessen wurden, der zeigt, welche Bedeutung es hat. Diese Geschichte fängt gerade erst an, neu entdeckt zu werden." (S. 154/55)
"Europa entschied sich für den Weizen, der den Boden zerfraß und eine regelmäßige Brache erzwang, die ihrerseits wieder die Viehhaltung implizierte beziehungsweise ermöglichte. Die Geschichte Europas lässt sich folglich kaum ohne Haustiere, Pflugscharen, Gespanne und Fuhrwerke denken. Der Reis entstand demgegenüber aus einer Art Gartenbau, einer intensiven Landwirtschaft, in welcher der Mensch den Tieren keinen Platz ließ. Daraus erklärt sich, dass in den Gegenden, wo man Reis anbaute, Fleisch nur eine untergeordnete Rolle spielte. Der Mais schließlich war das am bequemsten und leichtesten anzubauende Grundnahrungsmittel. Daraus ergab sich ein Überschuss an Zeit, der es ermöglichte, die Bauern zu Zwangsarbeit zu verpflichten. Die riesigen mittelamerikanischen Bauwerke geben dafür ein Beispiel. Die Gesellschaft eignete sich also ein Arbeitskräftepotenzial an, das brach lag,"
Wer bei dem Begriff «Kapitalismus» eher an Revolutionen denkt, die von Kohle und Öl befeuert wurden, übersieht leicht, dass es davor zunächst zu Veränderungen im Ernährungssystem kam. (S. 186/87)
(Raj Patel, Jason W. Moore: Entwertung: Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen