Dienstag, 7. Mai 2019

Lindner: Digitale Transformation in den Unternehmen

"[...] Wenn sich große Teile des betrieblichen Lernens zu den digital vernetzten Arbeitsplätzen verschieben, werden Räume und Zeiträume frei, die für herkömmliche Weiterbildung vorgesehen waren. [...] man kann das nun ganz anders füllen – nicht mehr mit Kursen und Seminaren im alten Stil, sondern mit Einzelveranstaltungen, Barcamps und agilen Workshops. Das folgt der Logik des Netzes: Treffen von Angesicht zu Angesicht werden seltener, aber zugleich wertvoller und intensiver. Hier bilden sich Keime für Netz-Communities. Hier entspinnen sich Konversationen, die über den alltäglichen Horizont hinausgehen. Hier holt man sich Impulse, die dann ein halbes Jahr lang weiterwirken und online gepflegt werden. [...]
Derzeit sieht es so aus, als würden zukunftsweisende Formen der Bildung und Weiterbildung vor allem abseits des akademischen Raums entstehen. Inwiefern die neue Lernkultur bei Adidas wirklich gelebt wird, lässt sich jetzt noch nicht beurteilen, aber der Start war jedenfalls verblüffend konsequent und dynamisch. [...]
"Die eigentliche Adidas-Universität ist kein Marmor-Gebäude, sondern das Smartphone, das jeder ohnehin dabei hat". [...]
Die Adidas-Zentrale ist also eine Art Luftschloss, und das passt natürlich gut in eine digital entkörperlichte Welt. Das Durchschnittsalter liegt bei 30 Jahren. Es ist klar, dass sich in postmodernen Firmen dieser Art die digitale Transformation viel radikaler vollzieht als in den herkömmlichen Industrien und Bürokratien. [...]
Eine Aussage aus einem konventionelleren Unternehmen, aus Continental:
"[...] Wenn man autonomes Fahren mitentwickeln will, muss man den ganzen Prozess über die ganze Organisation verteilen. Alle 215.000 Leute tragen dann im Idealfall dazu bei, jeder ein kleines Stückchen. Und dafür brauchen Sie eben Systeme, die dieses gemeinsame Denken und diese Kollaboration ermöglichen und abbilden." [...]
Wer das Lernen im Arbeitsprozess fördern will, muss E-Mails zurückdrängen. Je mehr mit E-Mails abgewickelt wird, desto weniger kann Wissen zirkulieren und weiter wachsen. [...]
E-Mails sind für die wenigen Inhalte da, die gerade nicht ins Netz gehören, weil sie vertraulich oder schwierig sind. Das heißt umgekehrt: Alle anderen Inhalte und Impulse müssten in sozialen Netzwerken und auf durchsuchbaren, verlinkten Webseiten ausgetauscht werden. An den vernetzten Arbeitsplätzen der Zukunft gilt die Maxime "So offen wie möglich, so geschlossen wie nötig". Nur dann kann auch eine neue Lernkultur entstehen."
Working Out Loud: "Der Blogger Bryce Williams brachte das [Working Out Loud] auf eine Formel: "observable work + narrating your work = working out loud". "Laut arbeiten" bedeutet also, die eigene Arbeit nach außen wahrnehmbar zu machen (passiv) und sie zusätzlich auch selbst in Worte zu fassen (aktiv). [...]
Auch die Grenzen zwischen Arbeiten und Lernen werden auf diese Weise fließend. Harold Jarche, einer der Vordenker des neuen digital-vernetzten Corporate Learning, spricht deshalb ausdrücklich von Learning Out Loud. Das Besondere sieht er darin, dass so ein zweiter von der eigentlichen Alltagsarbeit getrennter Raum entsteht: [...] Vertrauensvolle Räume, wie etwa die Communities of Practice, geben uns einen Platz, um ohne Risiko auch halbgare Ideen auszuprobieren. [...]
Um diesen Mentalitätswandel zu erleichtern, kreierte der Berater John Stepper eine Methode, die er ebenfalls "Working Out Loud" (WOL) nennt und in einem gleichnamigen Buch beschrieben hat: Working Out Loud: for a better career and life (2015). Hier findet das offene Arbeiten getrennt vom eigentlichen Arbeitsprozess in kleinen, geschützten Selbsthilfegruppen statt. Jedes der drei bis fünf Gruppenmitglieder setzt sich ein persönliches Ziel, das mit digitaler Kollaboration zusammenhängt, und dann trifft man sich 12 Wochen lang jede Woche, um zu reflektieren, wie weit man jeweils damit gekommen ist. [...]
Wenn man auf der individuellen Ebene der euphorischen Selbstverbesserung stehen bleibt, ergibt sich das typische Diät-Problem. Die Gefahr ist, sich etwas vorzunehmen, an dem man nur scheitern kann, und dann versinkt man erst recht in Frustration und neurotischen Ausweichmanövern. Es geht aber zuerst darum, ein stützendes Gerüst von Strukturen zu schaffen und dann mit Geduld und Frustrationstoleranz langsam die eigenen Routinen zu verändern. [...]
BuurtzogWikipedia-logo.png ist dagegen eine verteilte Organisation, die Pflegeteams sind im ganzen Land verstreut. [...] Wenn jemand ein schwieriges Problem hat, etwa Wie gehe ich mit Patienten umgeht, die lebensrettende Medikamente nicht einnehmen?, Dann können sie einzelne KollegInnen oder das Team um Hilfe bitten. Wenn systematischer Weiterbildungsbedarf entsteht, etwa zu neuen Medizintechnologien oder neuen Krankheitstherapien, kann man ein Training machen, wenn es dem eigenen Team (jeweils zwischen 4 und 12 Leute) gerechtfertigt erscheint. Die Budgetverantwortung liegt bei dem Team selbst. Drei Prozent der Einkünfte sind für die Weiterbildung reserviert, und bei Bedarf kann man mehr anfordern. Herkömmliches Weiterbildungsmanagement gibt es nicht. Die Zentrale versteht sich nicht als Planungszentrale, sondern als unterstützende Plattform, die Netzwerkeffekte zum Nutzen aller ausnützt. [...]
Es gibt keinen Unterschied zwischen Arbeit und Lernen, keine Kluft zwischen Online-Vernetzung und Offline-Weiterbildung. Leitbild ist die selbstständige Fachkraft, die auch beim Lernen alle wichtigen Entscheidungen selbst trifft. Im Zentrum stehen resources, not courses.
Die Industriearbeiter von FAVI und die KrankenpflegerInnen von Buurtzog sind bessere Modelle für die lebenslang lernenden MitarbeiterInnen der Zukunft als etwa die Google – MitarbeiterInnen oder die forschenden Ingenieure der schweizerischen Hightech-Firma Zühlke. Dort ist es ganz selbstverständlich, dass 20 % der Arbeitszeit dem Lernen in Communities auf Practice gewidmet sind, und die frühe Einführung eines ESN war nur die logische Konsequenz aus der immer schon vernetzten, agilen und projekthaften Arbeitsweise.
Doch Lalouxs Fallbeispiele zeigen, das es gar keinen Grund gibt, anspruchsvolle Selbstlern-Konzepte und Formen der Selbstorganisation auf Führungskräfte oder innovative WissensarbeiterInnen in der F&E-Abteilung zu beschränken. [...]
Natürlich sieht die Vision der lernenden Organisation aus der Perspektive von LeiharbeitnehmerInnen ganz anders aus, die für ein paar Jahre für weniger Geld neben den abgesicherten Regelarbeitsplätzen arbeiten und bei jeder Krise damit rechnen müssen, auf der Straße zu stehen."
Zum Kontext:
Martin Lindner: Die Bildung und das Netz

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