Sonntag, 12. Februar 2017

Aus einer Kanzelrede

Ich spreche aus Sorge. Aus Furcht. Denn ich kann, zumal mit Blick auf die Geschichte, nicht glauben, dass die weithin empfundene Unsicherheit und die verbreitete Fassungslosigkeit angesichts von Vergeudung und unverhältnismäßig wachsenden Einkommensunterschieden auf Dauer von Geduld begleitet oder durch Kontrolle ruhiggestellt werden kann – jedenfalls durch keine Kontrolle, die sich noch mit den Prinzipien des Rechtsstaates vertrüge.
Anders gesagt: ich fürchte mich vor einer Akkumulation von Unzufriedenheit, durchwirkt und verstärkt von Existenzangst; vor dem Überschlag des gegenwärtig deutlich zu vernehmenden Zorns in besinnungslose Wut. Gegen wen die sich richten würde, ist geschichtlich bis in unsere Zeit hinein hinreichend belegt: gegen alle. Niemand hat je für irgendwen Sicherheit garantieren können, wenn erst Zerstörung als gerecht, Gewalt als hilfreich galten. [...]
Sind wir als zivilisierte Wesen nicht mehr gefordert, garantiere keiner für sich! In jedem, sieht er sich in die Enge getrieben, lauert ein Barbar.

Die Anfänge sind nicht spektakulär. Eine Emulsion aus Enttäuschung, Verbitterung und Resigniertheit gießt sich über das Land aus. Zurückgehende Wahlbeteiligung, Ansehensverlust der Demokratie und ihrer Institutionen, fehlende Vorbildlichkeit nicht nur in der Politik, gesellschaftliche Abstinenz der jungen Generationen, Ellenbogenmentalität und Verachtung von Solidarität, propagierter Egoismus, wachsende Korruption und Schlamperei, stetige Verschlechterung öffentlicher Dienstleistungen bei steigenden Gebühren – und nicht zuletzt die Marginalisierung der Bildung. 


Gert Heidenreich: Kanzelrede (Fassung von 2005)

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