Sonntag, 8. Januar 2017

Sexuelle Bedürfnisse von Pflegebedürftigen und Behinderten

„Eine Finanzierung für Sexualassistenz ist für mich vorstellbar“, sagte Scharfenberg, die pflegepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. „Die Kommune könnte über entsprechende Angebote vor Ort beraten und Zuschüsse gewähren“.

Die Welt am Sonntag findet zu dieser Äußerung die Überschrift "Kassen sollen Sex mit Prostituierten zahlen". Prompt gibt der grüne Oberbürgermeister von Tübingen Frau Scharfenberg die Schuld.


Mehr dazu:
Das Bedürfnis nach Zärtlichkeit   Sexualbegleiterin   Kostenregelung

Zur weiteren Diskussion:
"Der Pflegeforscher Wilhelm Frieling-Sonnenberg, Professor an der Hochschule Nordhausen, bezeichnet das Konzept als "menschenverachtend". "Da geht es allenfalls darum, Menschen durch sexuellen Druckabbau wieder funktionstüchtig machen zu wollen: Lasst die Alten Druck ablassen, dann sind sie pflegeleichter." Sexualberaterin Vanessa del Rae sagt hingegen, die Prostituierten seien ein "Segen" für Heimbewohner und Pflegepersonal." (ZEIT online 8.1.17)

Die Diskussion scheint mir sinnvoll, denn das Problem ist länger bekannt. 
Der Hype, der gegenwärtig dazu entsteht, ist freilich hauptsächlich dazu geeignet, eine der beiden Oppositionsparteien zu schädigen. Man kennt das vom Veggie-Day. 
Wenn der Mainstream der Presse wieder so tut, als sollte der Bevölkerung etwas aufgezwungen werden, wo die Grünen doch weit entfernt davon sind, eine Kanzlerpartei zu werden, dann bestärkt das wieder nur das Gefühl, dass das System falsch sei. 

Es als "menschenverachtend" zu bezeichnen, wenn die Bedürfnisse von Benachteiligten angesprochen werden, wäre ich versucht, menschenverachtend zu nennen, wenn die Retourkutsche nicht allzu billig wäre. Es geht darum, die Bedürfnisse von Minderheiten ernst zu nehmen, auch wenn diese Minderheiten nicht als schick oder hip gelten. 
Ein Dementer wird nicht dadurch "funktionstüchtig" gemacht, dass man ermöglicht, ein grundlegendes Bedürfnis zu befriedigen, das er sich selbst nicht erfüllen kann.

Wie man ihm helfen kann, wäre zu diskutieren, aber nicht, ob man ihm helfen darf

Da vielleicht schon die Wiedergabe der Äußerung von Professor Wilhelm Frieling-Sonnenberg verfälschend war, habe ihn danach gefragt: 

"In der Presse geht die Behauptung um, Sie hätten die Erfüllung sexueller Bedürfnisse von Pflegebedürftigen in der Welt am Sonntag als "menschenverachtend" bezeichnet."

Seine Antwort kam sehr rasch:
"Das Interview habe ich vor einigen Monaten gegeben und das Wort war eingebunden in längere Ausführungen zum Thema, bezieht die Versorgung (pflegebedürftiger) älter Menschen mit ein, hat hier insgesamt mit dem Thema Leben und Wohnen im Alter zu tun, mit Pflegeheimen, mit individuellen Biografien, usw.. Es ist ohne Frage eine vielschichtige Thematik und das mündlich gegebene Interview werden Sie nicht im Netz finden. Ihre allgemeine Formulierung geht ein wenig in die falsche Richtung."

Das beruhigt mich hinsichtlich der Äußerung des Experten, auch wenn es kein "lupenreines" Dementi ist, nicht aber hinsichtlich des Umgangs der Presse mit seiner Äußerung. Denn die Unterstellung, Frau Scharfenberg sei "menschenverachtend" ist demnach von WamS und ZEIT online gemeinsam konstruiert, denn ihre Äußerung konnte Frieling-Sonnenberg bei seiner Formulierung noch nicht kennen.

So wird „Eine Finanzierung für Sexualassistenz ist für mich vorstellbar“ zu einer angeblich "menschenverachtenden" Forderung, die angeblich von den Grünen kommt.
Das ist kein Produkt einer "Lügenpresse". Aber wenn die BILD sich jetzt kaum noch von der Presse des Mainstreams unterscheiden sollte, wäre das nicht primär ein Verdienst der BILD.

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