Freitag, 13. Januar 2017

Atlas der deutschen Volkskunde

"Die erste Zentrale befand sich an bester Adresse, im Berliner Schloss. Daneben wurden im deutschsprachigen Raum 35 Landesstellen eingerichtet. Jeder zweite Ort, in dem es mindestens eine Schule gab, sollte erforscht werden – etwa 40.000 Orte. Ebenso viele Freiwillige, die in diesen Orten lebten, sollten die Antworten recherchieren. Der Schriftsteller Gerhart Hauptmann war einer von ihnen. Die meisten waren Lehrer, viele Pfarrer. Frauen waren fast keine dabei. Damit die Freiwilligen auch verstanden, wie wichtig das Projekt war, an dem sie da mitarbeiteten, erhielten sie eine "Werbeschrift", gestaltet von dem Maler Max Slevogt. Und es wurde ihnen versprochen: Wenn der Atlas fertig wäre, bekämen sie alle ein Exemplar davon. Nur: Der Atlas wurde nicht fertig, bis heute nicht.
Mehr als fünfzig Jahre lang wurde am Atlas geforscht, so lange wie an wahrscheinlich keinem anderen geisteswissenschaftlichen Projekt. [...]
Aber nach der Weltwirtschaftskrise 1929 war klar, dass selbst der Atlas, das Prestigeprojekt, sparen musste. Man begnügte sich damit, jeden vierten statt jeden zweiten Ort mit einer Schule zu untersuchen. Das waren immer noch 20.000 Orte. Und damit 20.000 ehrenamtliche Forscher."

Friedemann Schmoll entdeckte für sich den Atlas und übernahm den Auftrag, ein Buch über die Geschichte des Atlas zu schreiben (Die Vermessung der Kultur. Der „Atlas der deutschen Volkskunde“ und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1928–1980.)
So weiß er zu berichten:
"Wer den Atlas studiere, stelle fest, dass der Kaffee damals vor allem in den protestantischen Gebieten verbreitet war. "Das Aufweckende des Protestantismus und des Kaffees passten gut zusammen." Sein Onkel, erzählt Schmoll, hat auch Kaffee getrunken – zum Frühstück, aus einer großen Holzschüssel, mit viel warmer Milch und Brotstücken drin. Das schlürfte er dann so laut, dass es den Neffen mächtig beeindruckte. Erst vierzig Jahre später hat Schmoll über den Atlas erfahren, warum sein Onkel das machte. Der Onkel nahm die alte Tradition, morgens eine Brotsuppe zu essen, und verknüpfte sie mit dem Neuen, dem Kaffee. Der Atlas zeigt, wo um 1930 die Brotsuppe noch üblich war, nämlich auch in Schwaben. "Das ist halt das Schöne, wenn man versteht, woher Verhaltensweisen kommen." Es geht ihm um die Entschlüsselung des Alltags. Die kann Stück für Stück mit dem Atlas gelingen. [...] 
Um 1930 hatte der Geburtstag noch einen starken Konkurrenten, den Namenstag. Dass sich seither das Geburtstagfeiern fast überall im Land durchgesetzt hat, sage doch etwas darüber aus, wie wir heute leben. "
(Matthias Stolz: Der verlorene AtlasZEIT magazin 1/2017; online ab 12.1.17)

Ob der Verfasser (Matthias Stolz ) nie etwas vom Grimmschen Wörterbuch gehört hat?

Zwei Links aus den Kommentaren scheinen mir beachtenswert:

Zu denken gibt: 
Es arbeiteten 20 000 Ehrenamtliche mit. Wie viele aktive Benutzer arbeiten gegenwärtig an der deutschsprachigen Wikipedia? (unter 20 000)
Was Schmoll als zu ambitioniert verwirft, ist beim Atlas zur deutschen Alltagssprache möglich: eine vergleichende Aktualisierung älterer Forschung durch Internetbefragung.

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