"Das Verhältnis seines jüngeren Ichs zu Deutschland vergleicht Durgun mit der Beziehung, die man zum beliebtesten Mitschüler in der Schulklasse hatte: "Es war so, als hätte ich jedes Jahr versucht, Deutschland zu meinem Kindergeburtstag einzuladen, aber es war nie gekommen – ohne Kommentar. [...] "Die Ehe meiner Eltern ist wie Carmen Geiss – erschreckend laut und trotzdem liebevoll." Auf solche Jokes folgen jedoch immer wieder Passagen, in denen er mit seiner Mutter auf verstörend harte Weise ins Gericht geht. Seine ganze Jugend über habe sie ihn und seine Sprachkenntnisse ausgenutzt, ihn Behördenbriefe, Arztdiagnosen, Kochrezepte übersetzen lassen, bis heute – und versäume so die Chance, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu werden. "Denn ganz ehrlich: Um an einer Gesellschaft teilhaben zu können, ist Lesen und Schreiben das Mindeste."
Damit greift Durgun einen beliebten Talking Point von Konservativen und Rechten auf: die integrationsunwillige, die deutsche Sprache auch nach Jahrzehnten nicht beherrschende Migrantin. "Ich gebe zu, der vorige Absatz hätte auch ein Auszug aus dem Protokoll des letzten Sommerfestes der AfD-Jugend sein können", kommentiert Durgun das lakonisch. Auch an anderer Stelle scheint er keine Berührungsängste mit potenziell rassistischen Stereotypen zu haben, etwa wenn er schildert, wie sein Kumpel Baran sich Geld ergaunert, indem er an Haustüren Spenden für vermeintlich gute Zwecke sammelt, "für Klimaschutz oder Tierheim oder so"
Passagen wie diese lassen die Leserin ratlos zurück: Spielen solcherlei Erzählungen nicht den Falschen in die Karten, auch wenn sie humoristisch aufgeschrieben sind? Dass seine ambivalenten Beobachtungen der migrantischen Community instrumentalisiert werden können, ist für Durgun offensichtlich jedoch kein Grund, sie nicht zu veröffentlichen. Er zeichnet das komplexe Gesamtbild seiner Kindheit, wie er sich an sie erinnert. "Dieses Buch hilft, um Deutschland zu verstehen", schreibt er.
Durgun [...] fügt der postmigrantischen Debatte eine neue Dimension hinzu, indem er die eigene Community in die Verantwortung nimmt. Am Ende findet er dann doch noch versöhnliche Worte für seine Mutter. Wenn er beschreibt, wie sie ihm beigebracht habe, dass "Cay den Kummer von der Seele spült", wird deutlich, wie viel Bewunderung er aufbringt für die Zuversicht, die sie ihm trotz aller Hürden vermittelte. [...]" (ZEIT 16.4.25)
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