Bob Woodward: Rage. Simon & Schuster besprochen von Arno Widman
"Trump lügt. Nichts Neues auch das. Aber wenn man das Buch liest, begreift man, dass Lüge und Wahrheit Konzepte sind, die in Trumps Welt keine Rolle spielen. Die moralische Empörung, die sich meldet, wenn man liest, dass Trump, als er öffentlich Covid-19 herunterspielte, im Gespräch mit Woodward die Gefährlichkeit des Virus sehr beredt zu beschreiben wusste, hat noch nicht verstanden, wie Trump tickt. Er sagt Woodward gegenüber nicht die Wahrheit, die er der Öffentlichkeit verschweigt. Er teilt vielmehr beiden mit, was sie hören wollen. Donald Trump ist Verkäufer. Er redet in Reklamesprüchen. Das ist das Geheimnis seines Erfolges. Wenn der Slogan funktioniert, ist alles gut. Kein Mensch käme auf die Idee, die Marketingsprüche eines Unternehmens einem Faktencheck zu unterwerfen.
Trump begreift nicht, warum er jetzt die Wahrheit sagen soll. Er ist sein ganzes Leben lang bestens ohne sie ausgekommen, er ist Präsident ohne sie geworden. Wer sind denn diese Faktenchecker? Sind sie Präsident? „Irgendwie glaubt Präsident Trump, wenn er etwas sagt, würde es wahr“, erklärte ein demokratischer Senator spöttisch. Die fleißigen Gottesdienstbesucher mögen dabei an die Schöpfungsgeschichte gedacht haben, in der es heißt: „Gott sagte, es werde Licht, und es ward Licht.“
Die Wahrheit aber scheint mir, dass Trump wie viele Chefs in der Vorstellung lebt, er brauche nur etwas anzuordnen, dann werde es gemacht. Bei Trump nimmt das, man kann das in Woodwards Buch über viele Seiten verfolgen, wahnhafte Züge an. Das Coronavirus werde verschwinden, einfach wieder verschwinden – sagte er immer wieder. Ein Zauberspruch, ein magisches Weltverständnis, in dessen Zentrum das aufgeblasene Selbst steht. Einer, der ganz und gar davon überzeugt scheint, dass er alles kann und alles weiß. Expertenwissen interessiert Trump nicht: „Ich brauche nur mich und drei oder vier Menschen, denen ich vertraue und mit denen ich arbeite.“ " (FR 29.9.20)
"Trump ist Verkäufer" scheint mir eine wichtige Erkenntnis. Daher scheint mir der Satz "Trump begreift nicht, warum er jetzt die Wahrheit sagen soll." hinter Widmans vorhergehende Erkenntnis zurückzufallen.
Trump sieht nicht ein, warum er jetzt die Wahrheit sagen soll, scheint mir die treffendere Formulierung. "Never change a winning team." So lange er mit seiner Strategie Erfolg hat, ist es für ihn die richtige. Deshalb kommt es darauf an, seine Strategie zu durchbrechen. Erst dann wird er sie aufgeben. Das ständige Pass-Spiel des 1. FC Barcelona war so lange richtig, so lange damit die Spiele gewonnen wurden. Erst wenn die Strategie nicht mehr funktioniert, wird der Trainer sie aufgeben.
Es gibt mehr Moral in der Politik, als man so gemeinhin denkt. Offenbar sind gegenwärtig Glaubwürdigkeit und Vertrauen noch wichtig genug, dass die Mehrzahl der Politiker sie noch für wichtig genug halten, dass ein Verhalten wie das von Trump sich deutlich von dem anderer Akteure auf der politischen Bühne abhebt.
Das sollte freilich nicht zu dem voreiligen Schluss führen, dass Politiker in funktionierenden Demokratien immer die Wahrheit sagen. Das wäre sehr naiv.
Falsch liegt m.E. A. Schwarzkopf mit der folgenden Ansicht
"Donald Trump scheint eingesehen zu haben, dass er die Präsidentschaftswahl in fünf Wochen kaum noch gewinnen kann. Zu groß ist der Rückstand in den Umfragen, auch in fünf der entscheidenden und umkämpften Staaten wie Florida. Er setzte deshalb nicht darauf, Wechselwählerinnen und Wechselwähler für sich zu gewinnen, sondern eskaliert und polarisiert die Debatte weiter, um seine Anhänger anzustacheln." (FR 30.9.20)
Er "pöbelt", weil er das für das Zweckmäßigste hält. Und nach den bisherigen Erfahrungen spricht sehr viel dafür, dass er damit (im Sinne der Wahlbeeinflussung) Recht hat.
Zur Meldung: Trumps Superspread-Event in der FR vom 4.10.20. Natürlich ist es nicht unwahrscheinlich, dass Trump sich angesteckt hat. Wenn manche Trumpgegener daraus Honig saugen wollen, ist das nicht nur geschmacklos, sondern Schlimmeres. Vor allem aber: Selbst wenn sich viele Politiker angesteckt haben sollten. Die Tatsache, dass Trump erklärt, er sei positiv auf COVID-19 getestet worden, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das wirklich der Fall ist, nur minimal. Dafür kommt ihm die Nachricht zu gelegen als Ablenkung von seiner Steueraffäre, und den Mitleidseffekt bei seinen Anhängern nimmt er gewiss gern mit.
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