Europäische Union: Das Ende der Heuchelei ZEIT 9.6.2020: "Lange Zeit hat Deutschland seine Macht in Europa versteckt. Nun übernimmt es die Führung. Ein Gespräch über die vielleicht wichtigsten Monate in der Geschichte der EU. [...] Europa ringt mit den Folgen der Corona-Pandemie, und ausgerechnet jetzt übernimmt Deutschland für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Ist es gut für die Union, wenn Deutschland führt?
Luuk van Middelaar: Vielleicht ist es für beide gut, für die EU und für Deutschland. Die Deutschen verstehen häufig nicht, wie mächtig ihr Land eigentlich ist. Sie neigen dazu, ihre Macht zu verstecken. Jetzt müssen sie für alle sichtbar Verantwortung übernehmen. [...] Die Heuchelei bestand zum Beispiel darin, dass die deutsche Regierung in der Euro-Krise nicht zugegeben hat, ihre eigenen Interessen zu verteidigen. Stattdessen hat sie eine moralische Überlegenheit für sich in Anspruch genommen und die Griechen als "Sünder" dargestellt. Klar, die Griechen hatten mehr Geld ausgegeben, als sie besaßen. In Deutschland wurde aber ausgeblendet, dass die Milliarden-Rettungspakete auch dazu dienten, deutsche Banken zu retten und den europäischen Markt zu stabilisieren. Ähnlich, wenn auch etwas komplizierter war es in der Migrationskrise. Dass die Kanzlerin damals die deutsche Grenze für Flüchtlinge aus Syrien nicht geschlossen hat, war eine noble Geste. Dafür hat sie in Europa anfangs viel Applaus bekommen. Aber es wurde auch registriert, dass Deutschland eine sehr alte Bevölkerung hat und qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland braucht. Ich halte es für vollkommen normal, dass Länder in der EU ihre Interessen verfolgen. Ärgerlich und schwer erträglich wird es aber, wenn diese Interessen ständig versteckt und moralisch verbrämt werden. [...] Ja, diesmal erkennt die deutsche Regierung beides an: die Notwendigkeit zu europäischer Solidarität und die eigenen Interessen. Dadurch gewinnt sie an Glaubwürdigkeit. Es ist ein Zeichen wachsender Reife dafür, wie Deutschland mit seiner Macht in der EU umgeht. [...]
Mich fasziniert der Wandel der Öffentlichkeit. Die Europäer haben in den Dramen der vergangenen Jahre gelernt, viel mehr auf ihre Nachbarländer zu achten. Dadurch ist eine europäische Arena entstanden: Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte etwa spricht nicht mehr nur zu seinen Landsleuten; er gibt Interviews in Deutschland und den Niederlanden und versucht so, auch dort die Öffentlichkeit für sein Anliegen zu gewinnen. Umgekehrt erklären deutsche Minister in spanischen oder italienischen Zeitungen ihre Position. Die nationalen Regierungen haben verstanden, dass sie darauf Rücksicht nehmen müssen, wie sie in anderen europäischen Ländern wahrgenommen werden.
Krastev: Ausgerechnet in dem Moment, in dem wir unsere Wohnungen nicht mehr verlassen durften, sind wir kosmopolitischer geworden als je zuvor. Wir haben angefangen, in einer Welt zu leben, in der alle mit denselben Problemen kämpfen. Und die Menschen kontrollieren ihre Regierungen nun, indem sie sie mit anderen Regierungen vergleichen. Ich war selbst überrascht, wie sehr die österreichische Entscheidung, Einschränkungen wieder zurückzunehmen, die Debatte in Deutschland beeinflusst hat. Oder denken Sie daran, wie aufmerksam plötzlich die Politik der schwedischen Regierung verfolgt wird. [...] Nun hat die EU ihren Anspruch, die Mitgliedsstaaten verändern zu wollen, reduziert. Gleichzeitig ist der Druck auf die nationalen Regierungen größer geworden, trotz ihrer Differenzen zusammenzuarbeiten. Die Konsolidierung nach außen wird dazu führen, dass die EU in ihrem Inneren flexibler werden wird. [...] Van Middelaar: Nun steht fest, dass der Rest der Welt nicht so werden wird wie Europa. Stattdessen werden wir dazu gezwungen, uns anzupassen, wenn wir in der Welt von Donald Trump oder Xi Jinping mitspielen wollen. Das hat Folgen, und Deutschland fällt es besonders schwer, das zu akzeptieren. [...]
Krastev: [...] Nun geht es nicht mehr darum, Ungarn oder Polen zu verändern, sondern diesen Ländern zu sagen, unter welchen Bedingungen sie in der Union bleiben können. Wer etwa am Binnenmarkt teilnehmen will, muss rechtsstaatliche Voraussetzungen erfüllen. Die EU würde es sicherlich nicht akzeptieren, wenn in einem Mitgliedsland ein Militärputsch stattfände. Aber wir werden künftig eine viel größere Toleranz dafür erleben, was als Ausdruck nationaler Souveränität gilt, solange demokratische Prinzipien nicht offen infrage gestellt werden. [...] Wer die strategischen Interessen der EU gegenüber China schwächt, muss künftig damit rechnen, dafür bestraft zu werden. Jedes Land wird so dazu gezwungen, sich zu entscheiden – für die Gemeinschaft oder für die Einsamkeit. Das gilt nicht nur für Ungarn. [...]"
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