DIE MAUER
Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht, wie hoch sie ist
in uns
Wir hatten uns gewöhnt an ihren horizont
Und an die windstille
In ihrem schatten warfen alle keinen schatten
Nun stehen wir entblößt jeder entschuldigung
(Reiner Kunze)
Irene Misselwitz über die Maueröffnung
Irene Misselwitz wurde 1945 in Leipzig geboren und arbeitete als Analytikerin und Psychotherapeutin mit eigener Praxis von1993–2014 in Jena in Thüringen. Davor war sie 23 Jahre an der Universitätsnervenklinik Jena als Nervenärztin und seit 1978 überwiegend als Gruppentherapeutin tätig. Zurzeit ist sie noch bei MediNetz Thüringen e.V. und ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe als Ärztin und Gutachterin tätig.
"[...] Zum Zeitpunkt des Mauerbaus war ich 15
Jahre alt und gerade in England in den Ferien. Ich bin in einer
systemkritischen Familie aufgewachsen. Beide Eltern waren nie in
einer Partei. Mein Vater war Hochschullehrer seit 1954 und meine
Mutter Ärztin. Ich war dadurch einerseits privilegiert, andererseits
Außenseiterin: Kein Arbeiter- und Bauernkind und kein Jungpionier.
Statt dessen ging ich in die Christenlehre. Meine Eltern führten ein
offenes Haus mit viel Besuch aus allen Himmelsrichtungen. Sie
wollten, dass wir Kinder früh englisch lernen. Die Nachrichten und Bilder vom Mauerbau in
den englischen Zeitungen waren ein Schock. Die Bedeutung für mein
Leben war mir sofort klar.
Ich würde nie wieder meine Großeltern in
Göttingen und meinen Onkel in Westberlin besuchen können und auch
vor meinem Rentenalter nie wieder in ein westliches Ausland gelangen.
Ende, ausgeträumt!!!
Wieder in Jena warteten weitere Schocks auf
mich. Mir fielen sofort die verstörten bedrückten Gesichter der
Jenaer auf. Die Stimmung in der Schule war durch die Hospitationen
der Parteikommissionen in den Unterrichtsstunden furchtbar
angespannt.
In der Folge wurden wegen einer Lächerlichkeit eine
Klassenkameradin und mein Klassenlehrer der Schule verwiesen, ebenso
der Direktor verwiesen. Angst und Depression gingen um.
Der Mauerbau brachte für unsere
Familie sehr schmerzhafte Trennungen. Diese setzten sich durch die
Übersiedlungen meiner beiden jüngeren Brüder in die
Bundesrepublik, der eine 1970 nach einer 3-jährigen Gefängnisstrafe
wegen Republikfluchtplänen und der andere 1984 über
Ausreiseantrag, weiter fort. Auch viele Freunde und Kolleginnen
wählten diesen Weg. Mein Mann und ich überlegten immer wieder, ob
wir unserer Kinder wegen nicht auch weggehen sollten. Wir hielten’s
letzten Endes immer wie Goethe und Schiller hier auf dem Vorplatz des
Weimarer Nationaltheaters.
[...].
Wir persönlich dachten, „es können doch nicht alle weglaufen! Wir bleiben hier und wollen hier etwas verändern! Hier in der DDR, in der wir lebten und liebten und an der wir sehr litten!“ Wir träumten einen Traum vom demokratischen Sozialismus.
[...].
Wir persönlich dachten, „es können doch nicht alle weglaufen! Wir bleiben hier und wollen hier etwas verändern! Hier in der DDR, in der wir lebten und liebten und an der wir sehr litten!“ Wir träumten einen Traum vom demokratischen Sozialismus.
[...]
Ohne den Traum vom demokratischen Sozialismus hätte es keine friedliche Revolution und keine Wende gegeben! Dass er unrealistisch war, entwertet nichts von dem, was er bewirkt hat. Ohne die Kraft zum Träumen, ohne die Hoffnung, dass Wandel doch möglich ist, besteht die Gefahr in Resignation und in krankmachende Apathie zu verfallen, sich depressiv einzumauern.
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