"[...] Wir haben gelernt, dass wir mit Familie die Befriedigung zentraler menschlicher Bedürfnisse wie Zugehörigkeit, Gemeinschaft und Bindung verbinden. Laut einer Langzeitstudie der Universität Harvard ist das Gefühl von Verbundenheit der wichtigste Faktor für ein glückliches Leben. Wer also keine eigene Familie gründet oder keine große Herkunftsfamilie hat, muss diese Bedürfnisse anders befriedigen. Keine Überraschung also, dass für mich – kinderlos, Einzelkind, Scheidungskind, Single, kleine Herkunftsfamilie – alternative Familienmodelle alles andere als trivial, sondern eher existenziell sind. Dass immer mehr Freunde und Freundinnen zu Eltern werden, die über die Kinder zudem Zugang zu einer riesigen Peer-Group aus Gleichgesinnten erhalten, fühlt sich für mich bedrohlich an. Werden dadurch unsere Freundschaften in den Hintergrund treten? Müssen wir aufpassen, muss ich aufpassen, dass wir uns nicht komplett verlieren? Diese Gedanken machen mich traurig und unsicher.
Und es sind nicht nur Gedanken. Freundschaften brauchen, wie alle Beziehungen, Arbeit und Pflege. Laut der Soziologin Sabine Diabaté ist "Beziehungsarbeit neben Kompatibilität, die in selbstgewählten Bindungen in der Regel gegeben ist, einer der wichtigsten Faktoren für stabile und tragfähige Bindungen". Seit viele meiner Freundinnen Mütter sind, bleibt diese Arbeit aber auf der Strecke: Wir telefonieren kaum noch. Gemeinsam verbrachte Wochenenden sind selten und zusammen in den Urlaub zu fahren, ist kaum mehr denkbar. [...]
Gleichzeitig möchte ich mich auf keinen Fall in das Kleinfamilien-Idyll drängen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum ich in einer Art vorauseilendem Gehorsam weniger Sprachnachrichten schicke, anrufe oder kaum mehr nach gemeinsamer Zeit frage. Es ist ein stiller – und, bei näherem Hinsehen, für alle Seiten kontraproduktiver – Rückzug.
Ein wenig aufgeregt wage ich einen Vorstoß bei drei meiner engsten Freundinnen. Ich frage sie, ob sie es sich vorstellen könnten, gemeinsam mit ihren Familien und mir einen Kurzurlaub zu machen. Zu meiner Überraschung sagen alle sofort ja. Was mich ehrlich freut – und gleichzeitig denke ich: Das ist doch Win-Win-Win-Win für alle. Für meine Freundinnen und ihre Partner, weil eine weitere erwachsene Betreuungsperson dabei ist, die sich mit um die Kinder kümmert. Für die Kinder, weil da noch jemand ist, der Energie zum Spielen hat. Für uns als Freundinnen, weil wir gemeinsam Zeit verbringen können. Für mich, weil ich in der für mich perfekt dosierten Form Kinder-, Freundinnen- und Me-Time in meinem Leben habe und das Gefühl bekomme, am Leben meiner wichtigsten Menschen teilzuhaben. [...]
Ich habe außerdem gelernt, dass eine Kleinfamilie keine Garantie für lebenslange Verbundenheit ist. Ja, im Idealfall bietet sie einen Ort der Geborgenheit. Das ist aber zum einen längst nicht überall der Fall. Kurt Tucholsky bringt es in dem Gedicht Danach auf den Punkt: "Es wird nach einem happy end, im Film jewöhnlich abjeblendt." Die Scheidungsquote lag 2023 bei 35,7 Prozent. Zum anderen gibt es in vielen Familien generationenübergreifende und partnerschaftliche Konflikte und vor allem für Frauen im Alltags-Hamsterrad oft zu wenig Raum. Das bietet gerade bei Müttern ein großes Potenzial für eine schrittweise Vereinsamung. "Auch in funktionierenden Familien braucht es mehr als den Kosmos der Kleinfamilie", sagt die Soziologin Sabine Diabaté. Gerade tiefe und lange Freundschaften, in denen man den Kern der anderen Person kennt, sind dabei essenziell." (Wer ist Familie, wenn ich keine Kinder bekomme? von Verena Kleinmann, ZEIT 11. Oktober 2025)
Nicht ganz zufällig, dass das eine Frau schreibt; aber für Männer gilt Entsprechendes. Ganz problematisch ist es, wenn man über der Familie die Pflege von Freundschaften vernachlässigt. Nicht, dass man alle seine Internetfreundschaften und Bekanntschaften dauerhaft aufrechterhalten müsste. Aber da, wo man eine gute Beziehung spürt, sollte man in die Freundschaft investieren. Ganz gewiss gilt das beim Älterwerden.
Nach dem jewöhnlich abjeblendt des Happy Ends folgt nämlich die lange Phase des Abnehmens von Freundschafts- und Familienbeziehungen, mal sind es Berufswechsel, mal Umzüge und dann immer häufiger Sterbefälle.
Deswegen: Kluge Alleinstehende haben oft mehr "Familie" als Familienväter, die das Pflegen anderer Verbindungen vernachlässigen.
"Im Alter sind die Freunde selten. Die, die du hast, die lasse gelten. Recht kannst du immer noch behalten, doch nicht den Freund, den guten alten."
Das gilt seit dem Auseinandertriften der Gesellschaft seit Corona, dem Ukrainekrieg, dem Krieg im Gaza und nach der Enttäuschung über Parteien (die von ihren ursprünglichen Zielen inzwischen abweichen) noch deutlich mehr.
Es ist aber falsch, Verbindungen wegen Meinungsverschiedenheiten abzubrechen. Man verliert dadurch nicht nur "Familienkreis", sondern auch an geistigem Horizont, geistiger Beweglichkeit. Was sind die Gründe, dass jemand anders denkt, den ich früher sehr geschätzt habe? Sind sie wirklich so grundlos, haltlos, ohne Sinn? Oder lerne ich mehr über andere und mich selbst, wenn ich sie nachzuvollziehen versuche. Mag sein, ich scheitere. Aber es könnte auch sein, ich lerne dazu, werde weniger rechthaberisch und verstehe besser, wie ich mich seit dem Kennenlernen mit dem Freund verändert habe.