"[...] Der Fall Wulff kennzeichnet über den bloßen Präsidentenwechsel hinaus eine Zeitenwende. Es ist wahrscheinlich das letzte Mal, dass die herkömmlichen Medien die Macht zu einer so wirkungsvollen politischen Intervention entfalten konnten.
Aber damals konnten vor allem die Zeitungen noch einmal eine Welle des Populismus aufbauen und eine Weile auf ihr surfen, bis diese Welle über ihnen zusammenschlug – und einen Teil des wichtigsten Kapitals der Medien, das Vertrauen der Leser und Zuschauer, verschluckt hat. Das heute weit verbreitete Misstrauen gegenüber Journalisten und gegenüber dem Typus des Berufspolitikers hat auch eine Quelle in jenen Monaten, in denen führende Medien der Bundesrepublik in der Anmaßung lebten, sie könnten darüber bestimmen, wer Staatsoberhaupt in Deutschland wird, und wer es bleiben darf. Um das zu verstehen, müssen wir noch einen Schritt zurückgehen, zu Horst Köhler.
Sein Rücktritt als Bundespräsident im Frühjahr 2010 ist ein Paukenschlag, der das politische Berlin fassungslos hinterlässt. Seine Begründung, die Kritik einiger Politiker und Medien an seinen Äußerungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr entbehre jeder Rechtfertigung und lasse den notwendigen Respekt vor dem Amt vermissen, klingt wenig überzeugend, und das ist bis heute so geblieben.
Bei vielen Bürgern aber setzt sich der – von Köhler wohl durchaus beabsichtigte – Eindruck fest: Da ist unser beliebter Präsident also von missgünstigen Politikern und fiesen Journalisten aus dem Amt getrieben worden! Und die schicken ihm noch Beleidigungen hinterher.
Binnen 30 Tagen muss nun ein Nachfolger gefunden werden, und es entwickelt sich ein bis dahin nie dagewesener öffentlicher, medial inszenierter Wahlkampf um dieses Amt. Und so kommt Joachim Gauck ins Spiel. Seine Nominierung durch die Opposition ist eine Überraschung. Obwohl auch sie einem parteipolitischen Kalkül entspringt – nämlich der Kanzlerin und ihrer Koalition Probleme zu bereiten – , durchbricht sie in der öffentlichen Wahrnehmung die Logik der Hinterzimmerpolitik, wie sie Merkel mit der einsamen Kür von Wulff gerade wieder vorgeführt hat.
Gauck gilt als unabhängiger Kopf, er gehört keiner Partei an und vertritt in vielen politischen Fragen eher liberal-konservative denn links-alternative Positionen, dazu ist er ein in der Wolle gefärbter Antikommunist. [...]
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