Samstag, 2. Juli 2022

Kriegszivilgesellschaft

 https://www.merkur-zeitschrift.de/2022/06/30/kriegszivilgesellschaft-philosophiekolumne/

Im Rückgriff auf Luhmann, Habermas, Arendt und im weiteren auf Burckhardt und Nietzsche unter Beiziehung von Kosellecks Verständnis der Bürgergesellschaft kommt Gunnar Hindrichs zu folgender Aussage:

"Einst entpflichtete die Trennung von Rechtsfrieden und Gewissen die Bürgerinnen von öffentlichen Glaubensbekenntnissen. Indem jedoch die öffentliche Kritik den inneren Gerichtshof nach außen gewendet hat, tendiert sie dazu, jene Entpflichtung zurückzunehmen und ihre Mitglieder erneut auf Bekenntnisse zu verpflichten. Sie mögen Farbe bekennen: wie einst vor ihrem inwendigen Gerichtshof, so nun vor dem auswendigen. Tun sie das nicht, so werden sie verdächtig – sie entziehen ihre Überzeugungen ja der kritischen Verhandlung. Entsprechend kehrt die Frage des Bekenntnisses zurück. Und zugleich dehnt sie sich aus. Sie betrifft nun nicht mehr die Konfession des Glaubens, sondern alles, was die bürgerliche Öffentlichkeit ihrer kritischen Urteilsfindung unterwirft. 

In diesem Zug vermag etwas um sich zu greifen, was uns aus religiösen Zusammenhängen vertraut ist: die Bekenntniswut. Sofern in der kritischen Öffentlichkeit ein Bekenntnis auftritt, sind die anderen Mitglieder dazu aufgerufen, ebenfalls ihr Bekenntnis abzugeben. Denn nun steht der Sachverhalt, um den es dem Bekenntnis geht, im Raum – und dieser Raum ist der auswendige Gerichtshof, als der das öffentliche Urteilen sich vollzieht. Wie in den religiösen Gemeinschaften nach einem ersten Bekenntnis immer mehr sich dazu berufen sehen, sich ebenfalls zu bekennen, so bekennen nun die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft vor jenem Gerichtshof Farbe, sobald erste Bekenntnisse vor ihm Fahrt aufgenommen haben. Kurz: Wer dem religiösen Bekenntnis entsagte, hatte im konfessionellen Zeitalter ein Problem; wer dem politisch-gesellschaftlichen Bekenntnis entsagt, hat eins im bürgerlichen.

Und all das betrifft die Zivilgesellschaft. 11 Hervorgebracht vom Strukturwandel der Öffentlichkeit schließen sowohl das Kommunikative als auch das Agonale an die Externalisierung des inneren Gerichtshofs an. Das Kommunikative, weil es ihm um die intersubjektive Prüfung und Anerkennung von Geltungsansprüchen geht. Das Agonale, weil sein Wettstreit im Reden und Handeln der öffentlichen Urteilsfindung dient. Prüfen, Anerkennen, (Gegen)Rede, Urteilen – das ist nichts anderes als der Vollzug eines Gerichts. [...]

Denn wenn ein Krieg zum zivilgesellschaftlichen Thema wird, dann wird er, wie alle anderen Themen eines auswendigen Gerichtshofs, auf seinen Geltungsanspruch hin betrachtet. Und dann liegt es nahe, ihn als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt zu beurteilen. Entsprechend verdrängt das Konzept vom gerechten Krieg die Reflexion auf Strukturen, Interessen, Machtlagen. Das betrifft sowohl die realpolitische als auch die antimilitaristische Reflexion. Die Kälte der Realpolitik verfällt Isaiah Berlins Verdacht, letztlich zynische Brutalität im Sinn zu haben. 14 Das Feuer des Antimilitarismus erscheint als eine Gesinnungsethik, die sich vor globaler Verantwortung drückt. 15

Dieses Übergewicht des Konzepts »gerechter Krieg« hat Folgen. Wird der Krieg als gerecht beurteilt, nimmt man Partei für die angreifende Seite. Wird er hingegen als ungerecht beurteilt, nimmt man Partei für die angegriffene. Das heißt: Die verlangte Position läuft auf ein Bekenntnis zur jeweils gerechten Partei des Krieges hinaus. So kippt die Urteilsfindung über einen Krieg ins Farbebekennen im Krieg um.

Zweitens duldet der Bekenntnisdrang nur das Pro und Contra der Kriegsparteien, nichts Drittes. Er klagt jene der Zeugnisverweigerung an, die sich zu keiner Kriegspartei bekennen. Und er versteht sogar die Ablehnung des Krieges als ein Bekenntnis im Krieg. Seine Formel lautet meist so: Weil man sich mit seiner Neutralität oder seiner Ablehnung des Krieges weigert, Position im Krieg zu beziehen, lässt man die gerechte Seite im Stich und unterstützt damit die ungerechte. [...]"

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