Dienstag, 24. November 2020

Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten und das Ende der Illusionen

Gesellschaft der Singularitäten

"Reckwitz sieht in der Spätmoderne primär eine „soziale Logik der Singularisierung“, das heißt ein Bewertungssystem, das Besonderheit und Einzigartigkeit auszeichnet, am Werk. Er macht dafür wirtschaftliche (postindustrieller, kultureller Kapitalismus), technologische (Digitalisierung als Kulturmaschine) und soziokulturelle (neue Mittelklasse als Leitmilieu) Ursachen aus. Die Singularisierung münde, so Reckwitz, in eine gesellschaftliche Polarisierung, also eine Abwertung des Nicht-Singulären. Konflikte um Aufwertung und Entwertung werden als charakteristisch für die Spätmoderne auf allen Ebenen herausgearbeitet (Winner take all-Märkte, Aufmerksamkeitskonkurrenz, Entwertung der neuen Unterklasse und alten Mittelschicht, Opposition durch Populismus). Das Buch endet mit der Diagnose einer „Krise des Allgemeinen“." (Wikipedia: Reckwitz)

 "Der von Reckwitz verwendete Begriff der Singularisierung ist explizit von der Wirtschaftssoziologie Lucien Karpiks[6] und der Kulturanthropologie Igor Kopytoffs[7] beeinflusst. Er bezieht sich auf die philosophisch-soziologische Darlegung eines Verhältnisses zwischen Allgemeinem (Begriff) und Besonderen (Anschauung), wie es Immanuel Kant in Kritik der Urteilskraft diskutiert. Der Begriff lässt sich negativ als Nichtverallgemeinerbarkeit, Nichtaustauschbarkeit und Nichtvergleichbarkeit[1] bestimmen. [...]" (WikipediaDie Gesellschaft der Singularitäten)

"Neben Dingen haben in der Spätmoderne insbesondere drei weitere Gütertypen an Relevanz gewonnen: mediale Formate, Ereignisse/Events und Dienstleistungen, die in Praktiken der Beobachtung, Hervorbringung, Bewertung und Aneignung zum Gegenstand von Authentizitätsarbeit und im Zuge dessen, und sofern diese gelingt, zu Singularitätsgütern werden (137).[1] Sie alle tragen zur Transformation vom industriellen zum kulturellen Kapitalismus bei.

Die Standardmärkte für funktionale Massengüter der Industriemoderne, die sich auch als Preis- und Leistungsmärkte charakterisieren lassen, verändern so in der Spätmoderne ihre Form und werden »mehr und mehr durch kulturelle Märkte abgelöst« (147).[1] In der Spätmoderne konkurrieren die Güter primär um Sichtbarkeit und Anerkennung, das Verhältnis von Gütern und Konsumenten bzw. Publikum ist ein affektives, d. h. Singularitätsmärkte sind primär Aufmerksamkeits- und Attraktivitätsmärkte, die von kultureller Valorisierung leben. Für die Singularitätsmärkte ist dabei die Überproduktion von Gütern konstitutiv, zudem sind sie hochgradig spekulativ und ubiquitär. Zum einen lässt sich nach Reckwitz eine allgemeine Kulturökonomisierung des Sozialen beobachten, die immer mehr Segmente der Gesellschaft den Imperativen der Singularitätsmärkte unterwirft – bspw. Bildungsinstitutionen, Partnerschaften, Religionen usf. (152f.).[1] Zum anderen sind diese durch ein hohes Maß an Unsicherheit geprägt, denn »Aufmerksamkeitsströme, gelungene Überraschung und Wertzuschreibung entziehen sich einer Planung und Steuerung« (161).[1] Aufmerksamkeit und Wertschätzung sind darüber hinaus zumeist sehr asymmetrisch verteilt; die Singularitätsmärkte basieren auf strukturell riskanten und entgrenzten Winner-take-all-Wettbewerben. Sie teilen dabei wesentliche Strukturmerkmale mit dem Feld der Kunst und den creative industries, die dem kulturellen Singularitätskapitalismus der Spätmoderne als »strukturelle Blaupause« dienen (155).[1]"

(Wikipedia)

Zitate:

"[...] die Moderne setzt die strukturelle Gewalt ihrer Institutionen ein, um die individuelle Gewalt zurückzudrängen. [Norbert EliasÜber den Prozess der Zivilisation] [...] Die spätmoderne Kultur scheint so gesehen als der Gipfel gesellschaftlicher Pazifizierung. (S. 424) 

"Ihre Hyperkultur, Ihr Postindustrialismus von Wissens- und Kulturökonomie, ihr kuratierter Lebensstil, ihre Geschlechtergleichberechtigung, ihre Märkte und Projekte, ihre liberale Politik – all dies setzt eine pazifizierte Gesellschaft und eine extreme psychische Selbstkontrolle der Individuen in ihrem Alltag stillschweigend voraus" (S. 425)

In dieser Gesellschaft sind Terrorakte gegen beliebige Opfer extrem Aufmerksamkeit anziehend, schaffen die "fünf Minuten Ruhm" (Warhol), sind negative Singularitäten der Gewalt.

Seite 431
Zum Ersten ist in der Gesellschaft der Singularitäten die "große Erzählung" des politischen Fortschritts in mancher Hinsicht von den "kleinen Erzählungen" des (privaten) Erfolgs und des (privaten) guten Lebens abgelöst worden. [...] Zum Zweiten ist die Zeitstruktur der spätmodernen Gesellschaft und zwar sowohl was ihre sozialen Felder als auch ihre Lebensformen betrifft, grundsätzlich an der Gegenwart orientiert, so dass jene systematische Zukunftsbearbeitung, wie sie für eine Fortschrittsgesellschaft charakteristisch ist, "zurückgebaut" wird. In der Spätmoderne herrscht ein radikales Regime des Neuen, dass zugleich momentanistisch ist, sich also nicht an langfristiger Innovation und Revolution orientiert, sondern an der Affektivität des Jetzt. [John Urry, Socilogy beyond Societies.]
Zum Dritten kann die Frage, ob die Spätmoderne gegenüber der industriellen Moderne tatsächlich einen gesellschaftlichen Fortschritt bedeutet, offenbar gar nicht mehr allgemeingültig beantwortet werden. Im Zuge der Transformation von der industriellen Moderne zur Spätmoderne haben sich in verschiedenen Gruppen der westlichen Gesellschaften nämlich Gewinne und Verluste, Fortschritt und Regression, Aufwertungen und Entwertungen ungleich verteilt – zwischen Hochqualifizierten und Geringqualifizierten, zwischen Kreativen und Arbeitern, zwischen Männern und Frauen, zwischen Einheimischen und Migranten, zwischen Hetero- und Homosexuellen, zwischen Kosmopoliten und Sesshaften, zwischen Metropolen-  und Landbewohnern, Extrovertierten und Introvertierten, Lebensqualität- und Lebensstandardanhängern, Individuen mit speziellen Talenten und "Generalisten", verschiedenen Alterskohorten etc. etc. (S. 431/32)


Das Ende der Illusionen

Krise des Liberalismus und die Suche nach dem neuen politischen Paradigma (S.239 ff.)

Hier ist der neue Gedanke, dass ähnlich zu den wissenschaftlichen Paradigmenwechseln von Kuhn politische Paradigmenwechsel stattfinden im Wechsel von Regulierung und Deregulierung. Dabei seien die Richtungen von links und rechts an die Sichtweisen des jeweils herrschenden Paradigmas angepasst.

Beispiele: 

Adenauerära Regulierung: 

rechts (CDU): wirtschaftlicher Wiederaufbau, keine Experimente, 

links (SPD) etatistischer Sozialstaat

ab Ende der 60er Jahre (Studentenrevolte, Ölkrise, Stagflation) Deregulierung:

rechts: Wirtschaftsliberalismus

links: neue Sozialdemokratie (Blair, Schröder) Abbau des Sozialstaats

Klimawandel Regulierung:

einbettender Liberalismus 

So anregend viele Beobachtungen und Interpretationen von Reckwitz sind: Dass unsere Gesellschaft durch die Rolle von Singularitäten charakterisiert sei, will mir nicht einleuchten. Trotz aller Events, die Tatsache, dass Originelles und Unikate aufgrund der technischen Reproduzierbarkeit gerade nicht orts- und zeitgebunden rezipiert werden kann, spricht m.E. dagegen.

Dass Marken nach Alleinstellungsmerkmalen suchen, dass die Empfehlung eines individuellen sympathischen Influencers einem Massenprodukt einen Touch von Originalität geben kann, dass man sich aus Massenprodukten seine individuelle Mischung herstellen kann, zeugt dafür, dass Originelles besonders attraktiv ist, aber nicht dafür, dass Singularität ein Charakteristikum unserer Gesellschaft sei.

Falls die gegenwärtige Pandemie dauerhaft Digitalisierung und Fernkommunikation vorantreiben sollte, dann könnte die Entwicklung sogar - trotz aller abweichenden Wünsche - in die Gegenrichtung gehen. (Stand 30.1.21)

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