"[...] Wie lange ein Mensch lebt und welcher Mensch länger lebt, entscheidet nämlich längst nicht mehr die Natur, sondern die menschliche Technik und die Politik. Und wenn wir diese Frage nicht bewusst und verantwortlich entscheiden, wird sie unbewusst und unverantwortlich mitentschieden, etwa durch Stadtverordnete oder Industriemanager, die die Technik und Ausstattung eines Krankenhauses festlegen. Und dann rechnen Finanzexperten aus, wie hoch die Beiträge zur Krankenversicherung steigen dürfen, wie viel Entwicklungshilfe wir uns leisten können oder wie viel Umweltschutz usw. – denn unsere Mittel sind ja nicht unerschöpflich.
Die Frage ist aber auch
falsch gestellt. Es geht gar nicht darum, welches Leben "unwert"
ist (nach gängiger Überzeugung anscheinend die Leben aller Tiere
und Pflanzen auf dieser Erde), sondern welches Leben wir auf Kosten
welchen Lebens verlängern
wollen. Dadurch, wofür wir heute unser Geld ausgeben, bestimmen wir
nämlich:
Wie viele gesunde Inder verhungern müssen, damit ein
behindertes Kind in der BRD 30 Jahre lang am Leben erhalten werden
kann (100? 1000? Oder sogar 10.000?).
Wie viele Tierarten
aussterben müssen, weil das Leben eines sterbenden Menschen um einen
Monat verlängert werden soll.
Wie viele Flüsse vergiftet werden
(mit allem Leben darin), damit die Europäer täglich ihre Wäsche
wechseln können.
Wie viel Land für die nächsten 10.000 Jahre
radioaktiv verseucht werden soll, damit wir uns heute das
Treppensteigen ersparen können oder die lästige Arbeit des
Abwaschens. (Natürlich auch: Wie viel Prozent unserer Kinder
seelisch verkümmern werden, weil die Erwachsenen eine Stunde länger
fernsehen wollen.)
Kurz gesagt: Wie viele künftige Generationen
darunter leiden sollen, dass wir unser bequemes Leben und unser gutes
Gewissen ein paar Jahre länger genießen wollen. Nach uns die
Sintflut!
Die Natur kennt nur eine Lebensaufgabe: die Erhaltung
der Art, d.h. Weitergabe des gesündesten Erbgutes. Der Mensch hat
sicher andere Aufgaben (wenn auch kaum die, all das nicht-menschliche
Erbgut zu vernichten). Aber vermutlich gehört es zu seinen schönsten
Möglichkeiten, sein Leben freiwillig einer Aufgabe zu widmen und
auch notfalls zu opfern. Und wenn wir den Wert eines Lebens
beurteilen wollen, so werden wir fragen, ob der Mensch seine Aufgabe
erfüllt und nicht, ob er lange gelebt hat. Durch
unsere moderne Technik manipulieren wir alles
Leben auf dieser Erde. Wir sollten uns dessen bewusst sein, auch wenn
es uns erschreckt, und wir sollten unangenehme Entscheidungen nicht
einfach "der Natur" überlassen. "Ihr werdet sein wie
Gott, und wissen, was gut und böse ist." Wir haben die
Annehmlichkeiten der Technik gewollt, nun dürfen wir uns vor der
Verantwortung nicht drücken."
(Leserbrief an DIE ZEIT vom 23. Juli 1976)
Ganz aktuell ist der Leserbrief nicht mehr, aber die Frage "Wie viele künftige Generationen darunter leiden sollen, dass wir unser bequemes Leben und unser gutes Gewissen ein paar Jahre länger genießen wollen." ist in einem erschreckenden Maße dringlicher geworden.
Haben wir Älteren unser Leben genügend der Aufgabe gewidmet, dass die auf uns folgenden Generation nicht darunter leiden, "dass wir unser bequemes Leben und unser gutes Gewissen ein paar Jahre länger genießen wollen"?
Die Frage stellt sich 44 Jahre nach diesem Leserbrief mit gesteigerter Dringlichkeit.
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