Dienstag, 6. Oktober 2020

Ein Leserbrief von 1976

 "[...] Wie lange ein Mensch lebt und welcher Mensch länger lebt, entscheidet nämlich längst nicht mehr die Natur, sondern die menschliche Technik und die Politik. Und wenn wir diese Frage nicht bewusst und verantwortlich entscheiden, wird sie unbewusst und unverantwortlich mitentschieden, etwa durch Stadtverordnete oder Industriemanager, die die Technik und Ausstattung eines Krankenhauses festlegen. Und dann rechnen Finanzexperten aus, wie hoch die Beiträge zur Krankenversicherung steigen dürfen, wie viel Entwicklungshilfe wir uns leisten können oder wie viel Umweltschutz usw. – denn unsere Mittel sind ja nicht unerschöpflich.

Die Frage ist aber auch falsch gestellt. Es geht gar nicht darum, welches Leben "unwert" ist (nach gängiger Überzeugung anscheinend die Leben aller Tiere und Pflanzen auf dieser Erde), sondern welches Leben wir auf Kosten welchen Lebens verlängern wollen. Dadurch, wofür wir heute unser Geld ausgeben, bestimmen wir nämlich:
Wie viele gesunde Inder verhungern müssen, damit ein behindertes Kind in der BRD 30 Jahre lang am Leben erhalten werden kann (100? 1000? Oder sogar 10.000?).
Wie viele Tierarten aussterben müssen, weil das Leben eines sterbenden Menschen um einen Monat verlängert werden soll.
Wie viele Flüsse vergiftet werden (mit allem Leben darin), damit die Europäer täglich ihre Wäsche wechseln können.
Wie viel Land für die nächsten 10.000 Jahre radioaktiv verseucht werden soll, damit wir uns heute das Treppensteigen ersparen können oder die lästige Arbeit des Abwaschens. (Natürlich auch: Wie viel Prozent unserer Kinder seelisch verkümmern werden, weil die Erwachsenen eine Stunde länger fernsehen wollen.)
Kurz gesagt: Wie viele künftige Generationen darunter leiden sollen, dass wir unser bequemes Leben und unser gutes Gewissen ein paar Jahre länger genießen wollen. Nach uns die Sintflut!
Die Natur kennt nur eine Lebensaufgabe: die Erhaltung der Art, d.h. Weitergabe des gesündesten Erbgutes. Der Mensch hat sicher andere Aufgaben (wenn auch kaum die, all das nicht-menschliche Erbgut zu vernichten). Aber vermutlich gehört es zu seinen schönsten Möglichkeiten, sein Leben freiwillig einer Aufgabe zu widmen und auch notfalls zu opfern. Und wenn wir den Wert eines Lebens beurteilen wollen, so werden wir fragen, ob der Mensch seine Aufgabe erfüllt und nicht, ob er lange gelebt hat. 
Durch unsere moderne Technik manipulieren wir alles Leben auf dieser Erde. Wir sollten uns dessen bewusst sein, auch wenn es uns erschreckt, und wir sollten unangenehme Entscheidungen nicht einfach "der Natur" überlassen. "Ihr werdet sein wie Gott, und wissen, was gut und böse ist." Wir haben die Annehmlichkeiten der Technik gewollt, nun dürfen wir uns vor der Verantwortung nicht drücken." 

(Leserbrief an DIE ZEIT vom 23. Juli 1976)

Ganz aktuell ist der Leserbrief nicht mehr, aber die Frage "Wie viele künftige Generationen darunter leiden sollen, dass wir unser bequemes Leben und unser gutes Gewissen ein paar Jahre länger genießen wollen." ist in einem erschreckenden Maße dringlicher geworden. 

Haben wir Älteren unser Leben genügend der Aufgabe gewidmet, dass die auf uns folgenden Generation nicht darunter leiden, "dass wir unser bequemes Leben und unser gutes Gewissen ein paar Jahre länger genießen wollen"?

Die Frage stellt sich 44 Jahre nach diesem Leserbrief mit gesteigerter Dringlichkeit.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen