Mittwoch, 23. Oktober 2019

Friedenspreisrede von Sebastião Salgado

"[...] Nach den Massakern an den Tutsi durch die Hutu marschierte eine Tutsi-Armee aus Uganda und vor allem aus Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, in Ruanda ein. Wenige Monate später durchquerten rund 200.000 Flüchtlinge den Kongo in der Hoffnung, das Gebiet um Kisangani zu erreichen. Es war ein langer, beschwerlicher Fußmarsch von 500 Kilometern durch dichten Dschungel, und nur etwa 35.000 erreichten ihr Ziel. Als sie ankamen, breitete sich die Cholera aus und kostete viele weitere Leben. Ich begleitete das Team des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in eines der Lager, und nach seiner Abreise blieb ich in einem kleinen Dorf in der Nähe von Kisangani.
Es war entsetzlich. Flüchtlinge, erschöpft, krank, verhungernd; überall war der Tod; das grauenhafte Geräusch der Bagger, die Leichen in Massengräber schoben. Jeder Funke von Menschlichkeit schien erloschen zu sein. Ich sah einen Mann, der ein kleines Paket im Arm trug, während er mit einem anderen Mann redete. Als er die Grube erreichte, warf er die Leiche seines eigenen Kindes hinein, ohne das Gespräch zu unterbrechen. Ich konnte nicht aufhören, zu fotografieren. Ich wollte, dass die Bilder Zeugnis ablegten über das Grauen, das sich vor meinen Augen abspielte und das die Weltgemeinschaft wissentlich ignorierte. Am dritten Tag schickte mich der Grundschuldirektor, bei dem ich wohnte, weg. Ich sei weiß, sagte er, und „sie wollen dich töten“. Ich reiste um drei Uhr morgens ab. Der Lehrer hatte mir das Leben gerettet.
Die Überlebenden der 35.000 Hutu wurden von einer örtlichen Pro-Tutsi-Guerilla gezwungen, dorthin zurückzugehen, wo sie hergekommen waren. Es war die Hölle auf Erden. Alle 35.000 Hutu verschwanden, ermordet im kongolesischen Dschungel. Der Anblick der Fotos, die ich gemacht habe, ist nur schwer zu ertragen, und es hat tiefe Narben in meinem Gedächtnis hinterlassen. Es sind diese Flüchtlinge, die Toten, aber auch die Überlebenden, die niemals vergessen werden, was sie erlebt haben. Mit ihnen möchte ich diesen Preis heute teilen. [...]
Zur Zeit der Ankunft der Europäer im Jahr 1500 lebten schätzungsweise vier bis fünf Millionen von ihnen in dem Gebiet, das heute Brasilien umfasst. Heute sind es noch 310.000, die sich auf 169 Stämme verteilen und mehr als 130 Sprachen sprechen. Die Dezimierung der indigenen Völker in Nord- und Südamerika, von Alaska bis Argentinien, ist eine der größten demographischen Katastrophen der Geschichte. Und doch gibt es laut FUNAI immer noch 103 indigene Gruppen im brasilianischen Amazonas-Gebiet, die bisher keinen Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft hatten. Es sind Überlebende der Vorgeschichte der Menschheit.
Auf vielen Reisen in den letzten Jahren habe ich bei einem Dutzend verschiedener Amazonas-Stämme gelebt. Während dieser Aufenthalte habe ich ein außergewöhnliches Maß an Vertrauen und Respekt genossen. Auch mit meinen Freunden aus dem Regenwald möchte ich diesen Preis heute teilen. [...]
Lélia hat mich zur Fotografie gebracht.
Gemeinsam haben wir schwere Jahre des Exils erlebt.
Lélia Deluiz Wanick Salgado ist es, die unsere Bücher gestaltet, die Umschläge auswählt, das Layout macht, die Fotos und Texte zusammenstellt. Auch zurzeit arbeitet sie an einem neuen Buch über Amazonien.
Lélia hat mir durch ihre Liebe das Leben gerettet, als ich aus Ruanda kam, ein gebrochener Mann, heimgesucht vom Blut und vom Tod, dem ich begegnet war. [...]
Liebe Lélia, dieser Preis gehört genauso dir wie mir."

Sebastião Ribeiro Salgado Júnior 

https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/1244997/

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