Mittwoch, 21. Juni 2023

Die Tage des Westens sind gezählt


 Die Tage des Westens sind gezählt von  ZEIT 3.3.2023, Nr.10

"Auch wenn Russland seinen brutalen Angriffskrieg nicht gewinnt, dürfte am Ende eine neue Weltordnung stehen. [...]

Die meisten der sich im Ukraine-Konflikt neutral gebenden Staaten sind aus den Blockfreien hervorgegangen – mit dem Unterschied, dass einige Entwicklungsländer von einst inzwischen ihrerseits als globale Mächte agieren, politisch wie ökonomisch: Im Ranking der zwanzig wirtschaftlich stärksten Länder besetzen sie fast die Hälfte der Positionen und erwirtschaften kaufkraftbereinigt ein größeres Bruttoinlandsprodukt als die dem Westen zugerechneten Staaten. In den kommenden Jahren werden sie eine klare Vormachtstellung erringen; während die USA sich vorläufig noch behaupten, fällt Europa ins zweite oder dritte Glied zurück. Der Kontinent, der noch im Kalten Krieg den Hauptschauplatz bildete, rückt an den Rand des Weltgeschehens.

Diese geopolitische Verschiebung spiegelt sich in den Reaktionen auf den Ukraine-Krieg wider. Während er bei uns Tag für Tag die Schlagzeilen beherrscht, steht er in Indien, China, Indonesien, Lateinamerika, Afrika, den arabischen Staaten und der Türkei nicht in gleicher Weise oben auf der Agenda. Dort sind andere politisch-militärische Brandherde und vor allem die Folge missglückter westlicher Interventionen im Nahen Osten und in Afghanistan deutlicher im Bewusstsein. Inflation und Verknappung lebenswichtiger Güter werden nicht allein dem russischen Überfall, sondern auch den westlichen Sanktionen zugerechnet, deren sukzessive Ausgestaltung im Übrigen aus egoistischen Gründen inkonsequent war. Dass der Westen sich einmal mehr in ein womöglich auswegloses militärisches Engagement verstrickt, wird in Ländern der früheren Dritten Welt als ein Symptom für das nahende Ende einer von den USA dominierten internationalen Ordnung gelesen. Ohnehin begegnet man dort der moralischen Parteinahme des Westens für die Ukraine mit dem Verdacht, dass dem Leiden von Weißen mehr Gewicht beigemessen wird als dem Elend in südlicheren Weltregionen. [...]

Der Geltungsverlust der westlichen Demokratien erweitert den Spielraum anderer Staaten zur Verfolgung ihrer eigenen Prioritäten. Am augenfälligsten ist dies im Fall Chinas, das in seinem sogenannten Friedensplan zwar zur Waffenruhe aufruft, aber für den russischen Überfall letztlich die USA verantwortlich macht – als lachender Dritter in der Eskalation der Gewalt zwischen den beiden Supermächten des 20. Jahrhunderts. [...]"

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