Mittwoch, 31. Oktober 2018

Schlagwort, #Hashtag, Ambivalenz

Dieser Tage erscheint "Das Diktat des Hashtags: Über ein Prinzip der aktuellen Debattenbildung" von Andreas Bernard.

Eine Vorschau auf wichtige Aussagen des Buches gibt der Autor in der ZEIT vom 31.1018 unter dem Haupttitel "Das Diktat des Hashtags".
Nach meiner Beobachtung gibt es allerdings einen fließenderen Übergang vom Schlagwort zum debattenbildenden #Hashtag. 
Bernard schreibt:
"Seitdem Twitter ab 2007 und Instagram ab 2010 den Hashtag eingeführt haben, charakterisiert eine Form der Organisation von Aussagen und Dokumenten die alltägliche Mediennutzung, die noch vor kurzer Zeit auf hoch spezialisierte Berufsfelder und Personenkreise beschränkt war."
Zur weiteren Entwicklung führt er aus:
"Besondere Bedeutung kommt ihm heute als Gestaltungsprinzip von gesellschaftspolitischen Debatten zu. Unter dem Schlagwort "#MeToo"ist in den vergangenen zwölf Monaten etwa eine weltweit geführte, epochemachende Diskussion über sexualisierte Gewalt entstanden, deren inhaltliche Positionen und Legitimationen in allen Facetten diskutiert worden sind. Was bislang jedoch so gut wie nie zur Sprache kam, ist die Frage, inwiefern die medialen und sprachlichen Umstände dieser Debatte die inhaltlichen Verläufe mitgeprägt haben, inwiefern zum Beispiel die wiederkehrenden Missverständnisse und Konflikte zwischen den Beiträgerinnen und Beiträgern angesichts der Eingrenzung dessen, was "Belästigung" oder "Missbrauch" heißt, auf die spezifische Organisation der Aussagen durch den Hashtag zurückweisen. Denn wenn die unterschiedlichen und vielfältigen Stimmen, die ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt teilen, dies allesamt unter dem gleichen, identitätsstiftenden Schlagwort tun – "#MeToo" –, verstärken die medialen Rahmenbedingungen womöglich genau jene Homogenisierungs- und Nivellierungstendenzen, die in der Debatte dann inhaltlich kritisiert wurden."

Das ist treffend beobachtet, geht aber nicht darauf ein, dass es Verschlagwortung schon vor 2007 in Blogs* mit durchaus vergleichbarer Absicht wie 2007 in Twitter gab und dass die "bekanntesten und meistverwendeten" Hashtags (insbesondere #BlackLivesMatter", "#Ferguson", "#MeToo" und in Deutschland #Aufschrei erst ab 2013 auftraten und "Knotenpunkte eines neuen Mediengeflechts, das es einer von Fremdzuschreibungen geprägten Bevölkerungsgruppe erlaubt, direkte und wahrhaftigere Selbstbeschreibungen zu versammeln" wurden.


Zur Ambivalenz noch einmal Bernard:


"Hashtags, so könnte man sagen, kommodifizieren die Wörter, die ihnen folgen. Wenn Georg Lukács 1923 im berühmten Kapitel "Das Phänomen der Verdinglichung" von Geschichte und Klassenbewusstsein zeigen wollte, "wie weit der Warenverkehr die herrschende Form des Stoffwechsels einer Gesellschaft ist", dann gilt diese Diagnose ein knappes Jahrhundert später auch für die Metabolik der sozialen Medien. Nicht katalogisierbare, einzigartige, widerspenstige Bausteine sind in der Logik des Hashtags irrelevant. Stattdessen geht es um die größtmögliche Anhäufung von Beiträgen, um die Akkumulation des gleichförmigen, unter identischem Schlagwort subsumierten Aussagenkapitals, das sich in quantifizierbaren Listen wie den "Trending Topics" abbilden und weiter vermehren soll.
Der Hashtag ist ein gutes Jahrzehnt nach seinem Auftauchen also von einer unauflösbaren Ambivalenz gekennzeichnet. Er bringt die verstreuten Stimmen zum Ertönen und tilgt gleichzeitig das, was an ihnen unverrechenbar ist."


*Dazu ein Beitrag aus "Lehrerzimmer" vom 28.9.2005 (Dabei kann von den Tags "English" noch als  Kategorie gedeutet werden, "UK" aber durchaus schon als Schlagwort.) Dagegen ist das Label "Lesen" bei Fontanefan, wie aus den wenigen Artikeln, die sich in der Zeit von 2006 bis 2017 unter den über 2000 Artikeln dazu finden, ersichtlich, bereits eindeutig ein Schlagwort, freilich kein debattenstiftendes. Der Anstoß von Debatten wurde erst mit den Blogparaden versucht und das nie mit einem mit Twitterhashtags vergleichbaren Erfolg. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen