Dienstag, 10. März 2015

Osterhammel zu Energie und Industrie

Industrialisierung 
Die um 1900 auf der Welt erreichte Industrialisierung ging auf einen Innovationsschub nach 1760 in England zurück. Doch Industrialisierung ist "zumindest in ihren Anfängen, niemals ein nationales, sondern stets ein regionales Phänomen gewesen". (S.910) "Industrielle Revolution" ist zwar der gebräuchliche historische Fachausdruck für die Zeit nach 1760, aber die "Industrie war nie revolutionärer als heute."  (S.916) Damals gab es Wachstumszahlen um 2 %. (8% wie in China um 2000 waren damals undenkbar.) "Dieses Wachstum erfolgte auf der Grundlage eines neuen Energieregimes, das fossile Energiequellen für die materielle Produktion erschließt" (S.916)
"Es war ein Vorzug der industriellen Produktionsweise, dass sie mindestens in einem Sinne nicht revolutionär war: Sie vernichtete nicht sämtliche früheren Formen der Wertschöpfung und schuf keine radikal neue Welt." (S.924)
"Man hat oft von einer 'Zweiten Industriellen Revolution' gesprochen. Sinnvoller ist es, mit Werner Abelshauser von einer "'Zweiten wirtschaftlichen Revolution' zu sprechen. Sie bildete den modernen Konzern aus, wie er im 20. Jahrhundert zur dominierenden Unternehmensform werden sollte. Dieser neue Veränderungsschub  [...] [war] [...] von unmittelbarer globaler Wirkung. (S.925) Anders als die Industrielle Revolution, deren Fernwirkung sich nur langsam entfaltete.
Neue Leittechnologien waren Stahl, Chemie und Elektrizität. Als Unternehmensform trat die Kapitalgesellschaft mehr und mehr an die Stelle von Priatunternehmen. 
An die Stelle des "klassischen Wettbewerbsmechanismus" traten multinationale Konzerne, die "globale Vermarktungsnetze" gründeten. (S.925) So kam es zu "einer bis dahin beispiellosen direkten Durchdringung des Konsumgütermarktes." (S.925/26)
Das erst neu industrialisierte Japan hatte bei dieser Umstellung einen "Startvorteil", da es einigen Kaufmannshäusern gelang, als zaibatsu "große, stark diversifizierte Unternehmen, oft in Familienbesitz, die große Teile der Wirtschaft unter ihre oligopolistische Kontrolle brachten" (S.926) an der Spitze der Umstellung mitzuhalten. 
Um 2000 herum fanden Regionalexperten heraus, dass "China und Japan, aber auch Teile Indiens und der muslimischen Welt im 17. und 18. Jahrhundert" (S.926/27) schon weit entwickelter waren, als bisher vermutet. "[...] desto rätselhafter wird die spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts unverkennbare Große Gabelung (great divergence) der Welt in wirtschaftliche Gewinner und Verlierer." (S.927)

Energieregime: Das Jahrhundert der Kohle
"Energie wurde zu einem Leitmotiv des ganzen Jahrhunderts. [...] Nicht länger der frühneuzeitliche Mechanismus, sondern der dynamische Kraftzusammenhang war das naturwissenschaftliche Leitbild des 19. Jahrhunderts." (S.929) 
Naturwissenschaftler: Volta, Helmholtz, Maxwell, William Thomson (Lord Kelvin), Werner Siemens.
"So hat man geschätzt, dass in Europa um 1750 Holz die Quelle von etwa der Hälfte des Energiekonsums war, in China zur gleichen Zeit aber nur von höchstens acht Prozent. Umgekehrt war menschliche Arbeitskraft in China um ein Mehrfaches wichtiger als in Europa." (S.930)
"In Europa insgesamt lieferte Kohle bis um die Mitte des 19.Jahrhunderts nur einen winzigen Bruchteil der genutzten Energie. Erst danach ging der Anteil der traditionellen
Energiequellen zurück, während die Bedeutung der modernen Energielieferanten Kohle, später Öl, daneben auch der durch Staudämme und neuartige Turbinen besser nutzbaren Wasserkraft dramatisch zunahm. Die uns heute bekannte Pluralität der Energieformen ist ein Erbe der Industrialisierung. Sie folgte auf die jahrtausendelange Dominanz des
Brennstoffs Holz [...]" (S.931)
"Zur «landwirtschaftlichen Revolution» in Europa gehörte die vermehrte Ersetzung von menschlicher Kraft durch die von Pferden. [...] In der englischen Landwirtschaft stieg die pro menschlicher Arbeitskraft zur Verfügung stehende Pferdeenergie zwischen 1800 und 1850, also auf dem Höhepunkt der Industriellen Revolution, um 21 Prozent. Erst nach 1925 ging in Großbritannien die Zahl von Pferden pro Hektar zurück [...] . Die Ersetzung von Pferden durch Traktoren erweiterte die Anbauflächen ohne neue Landerschließung, da weniger Boden für die Erzeugung von Pferdefutter [...] erforderlich war. [...] Die Reisökonomien Asiens [...] besaßen diesen wichtigen Puffer für eine effizienzsteigernde
Modernisierung der Landwirtschaft nicht." (S.932)
"Die japanische Wirtschaft nutzte als eine der ersten in größtem Stile die Elektrizität, die teils aus Wasserkraft, teils aus Kohle gewonnen wurde und für die Industrie große Vorteile bot. Als in den sechziger Jahren die ersten Dampfmaschinen in Japan in Betrieb genommen wurden, hatte Japan gegenüber Großbritannien einen energietechnischen Rückstand von etwa achtzig Jahren. Um 1900 war dieser Rückstand vollkommen aufgeholt. "(S.933)
"Einige Regierungen erkannten die Notwendigkeit von Energiepolitik, andere nicht. In
Russland unterblieb der Ausbau einer hinreichenden Montanbasis, weil die Regierung unter dem [...] Finanzminister Sergej J.Vitte  einseitig Hightech-Projekte in Stahlindustrie und Maschinenbau förderte." (S.934) 
"Erst in einer zweiten Phase, als sich die metallverarbeitende Industrie weiterentwickelt 
hatte, genügte die Qualität der japanischen Kohle nicht mehr. Die Mandschurei war unter anderem deshalb für Japan als Kolonialgebiet so interessant, weil dort höherwertige, für die Verkokung besser geeignete Kohlen zu gewinnen waren. [...] Es gibt wenige deutlichere Beispiele für «Ressourcenirnperialismus», also die Unterwerfung anderer Länder zum Zweck der Aneignung industriell notwendiger Rohstoffe. [...] China war ein potenzieller Energieriese, der in der ersten Phase seiner Industrialisierung die eigenen fossilen Energieträger nur sehr begrenzt nutzen konnte. Anders als in Japan gab es keine Zentralregierung, die Fragen der Energieversorgung Priorität in einer wirtschaftspolitischen
Steuerung des industriellen Aufbaus hätte geben können. (S.935)
"Um 1910 oder 1920 zerfiel die Welt in die Minderheit derjenigen, die sich Zugang zu fossilen Energiespeichern geschaffen und die für deren Nutzung nötigen Infrastrukturen etabliert hatten, und die Mehrheit derer, die unter wachsendem Knappheitsdruck mit den traditionellen Energiequellen auskommen mussten. Deutlich wird der Abstand zwischen dem «Westen» und der übrigen Welt, wenn man sich die Verteilung der Welterzeugung
von Kohle ansieht. Im Jahre 1900 entfielen auf Asien gerade einmal 2,82 Prozent, auf Australien 1,12 Prozent und auf Afrika 0,07 Prozent der Weltförderung." (S.936)
"War die Dampfmaschine zunächst ein leistungsfähigerer Energieerzeuger als das Wasserrad, so wurde sie von diesem in seiner neuen Gestalt als Wasserturbine bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder überholt." (S.936)
"Insgesamt spricht vieles dafür, den Wechsel des Energieregimes als eines der wichtigsten
Merkmale der Industrialisierung zu betrachten." (S.937)
"Nach der Industrieleistung pro Kopf der Bevölkerung kalkuliert,  [...] stand Großbritannien vor Deutschland an der Spitze. Belgien und die Schweiz wiesen dasselbe Industrialisierungsniveau auf wie das Deutsche Reich, Frankreich und Schweden folgten mit größerem Abstand. Keines der übrigen Länder Europas erreichte auch nur ein Drittel des britischen Pro-Kopf-Niveaus der industriellen Produktion;  [...] Eine differenzierte Betrachtung Europas zeigt, dass von einem «industriellen Europa», das als Ganzes einem wirtschaftlich unmodernisierten Rest der Welt  [...] gegenüberstand, nicht die Rede sein kann." (S.938)
"Warum es den lateinamerikanischen Ländern nicht gelang, vor ihren Experimenten mit einer vom Staat geförderten importsubstituierenden Industrialisierung in der Zwischenkriegszeit Anschluss an die Industrialisierungsdynamik in Westeuropa, Nordamerika oder Japan zu finden, ist eine nach wie vor ungelöste Frage." (S.941)
"Nicht die verhaltene und vom Staat kaum angeleitete Entwicklung in der spätesten Kaiserzeit, sondern die Abbremsung des begonnenen Starts nach 1920 ist das charakteristischste Merkmal der chinesischen Industrialisierungsgeschichte vor dem großen Aufschwung nach 1980. [...] In China erwies sich trotz fehlenden Zollschutzes die dörfliche Hausweberei für den lokalen und regionalen Bedarf als ziemlich widerständig. Als im frühen 20. Jahrhundert Baumwollgarn aus den neuen Fabriken [...] das handgesponnene Garn zunehmend verdrängte, stellten sich die Weber auf Maschinengarn um und konnten
auf diese Weise weiter wirtschaften." (S.943)
"Am Beginn der europäischen Industrialisierung stand also die Importsubstitution asiatischer Einfuhren [...] Dieses - von Indien und China aus gesehen - Wegbrechen der Exportmärkte, wie es ähnlich auch die osmanische Textilindustrie in der ersten Hälfte des 19.Jahrhundert erlebte, hatte katastrophale Auswirkungen für asiatische Regionen, die auf Tuchexporte spezialisiert waren." (S.944)
"Anders als in China engagierte sich in der indischen Baumwollindustrie kaum
ausländisches Kapital" (S.944) "Wer immer nur auf den Handel zwischen Europa und Asien
schaut, unterschätzt die Vitalität asiatischer Produzenten in ihrem näheren Umfeld. Vor allem dank ihrer Exporte nach China und Japan verneunfachte die indische Industrie ihren Anteil am Weltmarkt für Baumwollgarn von 4 Prozent I877 auf 36 Prozent 1892." (S.945)
Während in China die frühe Eisen- und Stahlindustrie [...] ganz auf behördliche Initiative zurückging, war die frühe indische Stahlindustrie einem einzigen Mann zu verdanken: Jamshedji Tata, [....] ein Zeitgenosse des 1842 geborenen deutschen Stahlbarons August Thyssen. (S.945)
Bei Japan "rätselt man [...] darüber, warum es dort «geklappt» hat. [...] Entscheidend war der Charakter der japanischen Industrialisierung als politisches Projekt, das gemeinsam von Staat und Unternehmern realisiert wurde. (S.947)
"Anders als gleichzeitig das Zarenreich [...] und China [...] vermied Japan jegliche Abhängigkeit von ausländischen Gläubigern, solange es außenpolitisch wegen der Ungleichen Verträge noch nicht voll souverän war und solange es ökonomisch verwundbar
blieb, also bis in die 1890er Jahre. [...] Die Steuerpolitik des Meiji-Staates belastete systematisch eine Landwirtschaft, die zur gleichen Zeit steigende Erträge erzielte."  (S.948)
"Auch unternehmerische Pioniere sahen die Industrialisierung als ein gesamtjapanisches
patriotisches Projekt und pflegten ein Motivensemble eher des Dienstes am Vaterland als individueller Profitmaximierung; [...] Diese nationale Einstellung hatte unter anderem die Folge, dass kostbares Wissen über den Umgang mit der Weltwirtschaft, Wissen, das die Japaner nach 1858 innerhalb kürzester Zeit erwerben mussten, schnell und großzügig über Firmengrenzen hinweg kommuniziert und damit weithin zugänglich wurde. (S.949)
"Eine Industrialisierung ganz ohne staatliche Hilfe, wie sie einige liberale Ökonomen für wünschenswert und möglich hielten, war historisch eine große Ausnahme. Keineswegs stehen sich zwei große Modelle der westlich-liberalen und der östlich-etatistischen Industrialisierung gegenüber." (S.950)

Kapitalismus
"Von Marx bis Weber war der Kapitalismus ein zentrales Thema der sozialwissenschaftlichen Zeitanalyse. Die Kapitalismustheorien, zu denen auch die radikal liberalen und sozialistischen Imperialismustheorien gezählt werden müssen, die genau gleichzeitig mit den Arbeiten Max Webers, Werner Sombarts und anderer Mitglieder der 'jüngeren historischen Schule' der deutschen Nationalökonomie entstanden,  gehören zu den differenziertesten Selbstbeschreibungen des späten 19. Jahrhunderts. Ein einheitliches Verständnis des Begriffs entstand dabei allerdings nicht, und schon 1918, also noch zu
Lebzeiten Max Webers, will jemand in der Literatur 111 Definitionen von 'Kapitalismus' gefunden haben." (S.953)

Allgemeines zum Kapitalismus des 19. Jahrhunderts:
Diese "Wirtschaftsordnung [...] beruht auf der arbeitsteiligen Produktion für Märkte" und macht "jeden Produktionsfaktor zu einer auf dem Markt handelbaren Ware". "Sklaverei und andere Formen 'außerökonomischer' Bindung widersprechen seiner eigenen Logik der
unbegrenzten Disponibilität." Er "besitzt die Flexibilität, die jeweils produktivsten Technologien und Organisationsweisen (deren Leistungsfähigkeit der Markt erweist) zu nutzen." (S.954)
Die "Frage nach dem 'Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus' [...] stellt sich bestenfalls für einige Länder Westeuropas und für Japan. In mehreren Ländern, wo der Kapitalismus im 19.Jahrhundert am erfolgreichsten war, nämlich in den USA, Australien oder im südafrikanischen Bergbau, gab es keinen «Feudalismus» - ebensowenig in China [...].  Das Thema muss allgemeiner als das der Schaffung institutioneller Rahmenbedingungen für Kapitalismus formuliert werden.  [...] 'Freiräume' für Märkte [sind] das Ergebnis eines staatlichen Willens zum Laisser-faire, also von 'Ordnungspolitik'. (S.955)
Im 19. Jahrhundert [...] war die Nähe zwischen Kapitalismus und (nationalem) Territorialstaat besonders groß. [...] Aus der Sicht Kontinentaleuropas und der USA blieb der extreme Freihandel eine auf das dritte Quartal des 19. Jahrhunderts beschränkte Episode. [...] Bergwerke, Fabriken und Schienennetze wurden für einen längeren Nutzungszyklus angelegt, als es die typische Periode des Kapitalumschlags im frühneuzeitlichen Groß- und Überseehandel gewesen war. Kapital wurde in einer Weise für die Produktion fixiert, wie es bis dahin nur in Bauwerken geschehen war. Damit waren beispiellose Eingriffe in die physische Umwelt verbunden. Keine andere
Wirtschaftsordnung hat jemals die Natur drastischer umgestaltet als der
Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts." (S.956)
"Der Kapitalismus entdeckte nach 1870 das Instrument des Kapitalexports, anders gesagt: der überseeischen Investitionen. Dies blieb allerdings lange eine britische Spezialität. [...] Die Elektroindustrie entstand überhaupt erst mit der technischen Herausforderung
der Langstreckentelegraphie und verkaufte ihre Produkte von Anfang an in der ganzen Welt." (S.957) Doch es gab noch keinen globalen Kapitalismus. "Die Industrialisierung [...] war ein jeweils regional spezifischer Prozess. Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts hingegen [...] ermöglichte, lokales unternehmerisches Handeln in großräumige und
tendenziell globale Interaktionskreise einzurücken." [nicht mehr!] (S.957) 

(Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2009)

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